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Wird der gewagte Plan bei der vermeintlich schwachen deutschen Fußballmannschaft gelingen?

Nagelsmann: Der tapfere Trainer, das Sommermärchen der Fantasie

Julian Nagelsmann will mit dem DFB-Team die Heim-Europameisterschaft gewinnen.
Julian Nagelsmann will mit dem DFB-Team die Heim-Europameisterschaft gewinnen.

Wird der gewagte Plan bei der vermeintlich schwachen deutschen Fußballmannschaft gelingen?

Die Aufstellung für die Europameisterschaft im eigenen Land steht fest, aber Julian Nagelsmann hat noch einiges zu tun. Er hat einen konkreten Plan im Kopf, weiß aber auch um die Anfälligkeit der Nationalmannschaft. Der Einsatz könnte nicht höher sein, denn sowohl ein Sommermärchen als auch der Titel sind in greifbarer Nähe.

"Ein Staraufgebot", grinst Julian Nagelsmann, als er sein Team für die Heim-EM vorstellt, "es könnte meins sein, aber es ist unseres." In Berlin präsentierte der Bundestrainer 27 Spieler (einer muss noch gestutzt werden), die Deutschland zu einer erfolgreichen Euro 2024 führen sollen - und er machte deutlich, wie diese Europameisterschaft ablaufen soll. Zusammen mit der Nation, mit den Fans. Als magisches Sommerereignis.

Ein reiner Werbegag? Marketingtaktiken sind dem DFB nicht fremd. Nach der chaotischen Medienjagd auf die vorausgewählten DFB-Spieler betonte der 36-jährige Nagelsmann immer wieder, wie wichtig es sei, ein positives Umfeld im Land zu schaffen und zugänglich zu sein: "Jeder im Land soll sich mit der Mannschaft identifizieren, sie soll und kann inspirieren." Sie wollen die kollektive Euphorie der Weltmeisterschaft 2006 wieder aufleben lassen. Aber kann das in so kurzer Zeit gelingen? Nagelsmann hat einen ehrgeizigen Plan, aber es gibt einige potenzielle Fallstricke.

Nagelsmann steht bei der Vorbereitung auf sein erstes Turnier als Trainer der deutschen Nationalmannschaft sicherlich unter Druck. Die jüngsten Siege gegen Frankreich und die Niederlande haben dem Land nach der enttäuschenden Ära Hansi Flick neue Hoffnung gegeben. Von Nagelsmanns Mannschaft wird nicht nur erwartet, dass sie gute Leistungen bringt, sondern auch, dass sie mitreißt, blendet und begeistert. Sie soll begeistern und endlich wieder einmal bei einem großen Turnier erfolgreich sein. Ein 'Sommermärchen' 2.0.

Kein "Trash Talk" mit Hummels

Überall ausgelassene Stimmung? Keine leichte Aufgabe. "Die Euphorie schließt die Konzentration nicht aus", meint Nagelsmann und erklärt, dass die Mannschaft zwar in öffentlichen Foren mit den Fans interagieren wird, aber "etwas Freiraum" zum Arbeiten schätzt. Der Bundestrainer ist zufrieden, dass das Land jetzt "viel positiver ist als vorher" und betont: "Ich will von meiner Mannschaft unterhalten werden." Der Meistertitel hat natürlich oberste Priorität, doch Nagelsmann hofft auf eine spannende Europameisterschaft, egal wie sie ausgeht.

Der Bundestrainer weiß auch, wie man die Europameisterschaft gewinnt und äußert dies nur, wenn er gefragt wird. Dabei geht es nicht nur um technische Fertigkeiten. Neben der guten Laune im Land braucht Nagelsmann auch die richtige Mischung aus Charakter und Spielfreude und das Gedeihen des "extrem zarten" und "zarten Pflänzchens". Um dies zu erreichen, verweist er auf mehrere Schlüsselspieler.

"Jeder Akteur hat seine eigene Persönlichkeit, seine eigenen einzigartigen Qualitäten", erklärt Nagelsmann. Es geht darum, "die richtigen Charaktere zusammenzubringen, um ein abgerundetes Team zu schaffen". Es geht um die Ausgewogenheit und "nicht immer um die besten Spieler". Äußerungen, die den Trainer verfolgen könnten, wenn die Europameisterschaft nicht nach Plan verläuft. Die größte Herausforderung des Turniers besteht darin, die Energie hoch zu halten und einen Zusammenbruch des Lagers zu vermeiden.

Obwohl Mats Hummels und Leon Goretzka nicht erwähnt werden, ist es möglich, dass sie bei der Heim-Europameisterschaft nicht dabei sein werden, weil sie sich in den Medien zu Wort melden und Teamkollegen oder Trainer in Frage stellen. Sie hätten "unglaublich verärgert" darauf reagiert, nicht nominiert zu werden, verrät Nagelsmann, aber es sei "kein feindseliges Gespräch" gewesen. Das Turnier wird zeigen, ob diese Entscheidung von Vorteil war.

Kroos - "solide wie Stahl", Andrich - "Schurkenmentalität"

Nagelsmann setzt auch auf eine gute Balance auf dem Feld. Er kombiniert gestandene und erfahrene Spieler mit flexiblen und ehrgeizigen Spielern. Der Kern: Manuel Neuer, Antonio Rüdiger, Toni Kroos, İlkay Gündoğan. Vor den Länderspielen im März stand der Bundestrainer vor einem "Glücksspiel", das heißt, er musste ein Risiko eingehen. "Wir wussten, dass wir etwas ändern mussten", erklärt er, und Rüdiger war der erste Name auf seiner Liste. Der erfahrene Verteidiger von Real Madrid bildet die Innenverteidigung vor Neuer, neben Jonathan Tah von Meister Bayer Leverkusen.

Als Bindeglied zwischen den Verteidigern und Torhüter Neuer dient Toni Kroos, den Nagelsmann bei einer Trainingseinheit im März genau beobachtet und auf Pressekonferenzen mehrfach gelobt hatte. Nicht distanziert, weil er schon alles gewonnen hat? "Er ist ganz normal, bodenständig und ein Teil der Gruppe." Nicht zu alt, weil er nur noch wenige Spiele bei Real Madrid macht? "Wenn man Kroos umarmt, ist er wie Stahl", sagt der Bundestrainer. "Er hat einen unglaublichen Körper und ist extrem fit." Der 34-Jährige ist so gut in Form wie seit Jahren nicht mehr. Mit seiner Ruhe am Ball hilft er auch seinen Mitspielern auf dem Platz. Jeder weiß, so Nagelsmann, "dass ich immer zu ihm passen kann, er verliert selten den Ball". Dass Kroos und Rüdiger sich aus Madrid kennen, schadet nicht, aber auch Kroos war bei der WM 2018 ein Weltklassespieler und ist wie alle seine Teamkollegen unter dem Druck in Russland zusammengebrochen.

Die jüngeren Spieler Jamal Musiala und Florian Wirtz sowie die unerfahrene, aber potenziell undurchdringliche "Berliner Mauer" (Zitat Nagelsmann) werden diese Achse dann umgeben: Maximilian Mittelstädt und Robert Andrich. Mittelstädt stammt wie Rudiger aus Berlin, Andrich ist gebürtiger Potsdamer und hat für Hertha BSC und Union Berlin gespielt. "Maxi spielt eine überragende Saison" und ist "defensiv gereift", schwärmt Nagelsmann. "Rob hat sich sehr gut eingefunden und trägt mit seiner Körperlichkeit und seiner Kaltschnäuzigkeit zu uns bei." Das Grundgerüst ist noch in Arbeit und muss über einen längeren Zeitraum getestet werden.

Müller kann auch mit "Rappern" arbeiten

Doch nicht nur der sportliche Aspekt ist wichtig, auch Thomas Müller wird von Nagelsmann gelobt. Er werde zwar nicht viel von Anfang an spielen, sei aber "toll, wenn er von der Bank kommt und immer Lust hat, Fußball zu spielen", und sein Flair sei verantwortlich für seine typischen "Müller-Tore". Der Bundestrainer schätzt Müller aber vor allem wegen seiner Kommunikationsfähigkeiten: "Er ist ein Bindeglied, er kann Gruppen verbinden." Der Bundestrainer erklärt dies an einem Beispiel: "Er kann sich mit den Rappern in der Mannschaft verbinden und mit denen, die jodeln." Müller ist vielleicht kein einfacher "gut gelaunter Onkel", aber er ist eine wichtige Kommunikationsfigur für jede Mannschaft. Außerdem kann jemand wie Müller den Funken (zusammen mit den Toren) entzünden, der zu einem begehrten Sommermärchen führen könnte. "Er ist auch ein Bindeglied zu den Fans und den Medien", erklärt Nagelsmann, "ein Schmiermittel und ein Bindeglied."

Auch dieser Kader ist eine potenzielle Zeitbombe: Hat die Sturmreihe genug Power, wenn Niclas Füllkrug ausfällt oder einen schlechten Tag hat? Können der unerfahrene Deniz Undav und der verletzte Leroy Sané ihr Potenzial ausschöpfen? Wird die Ruhe von Hummels, der sich in dieser Saison in den wichtigsten Spielen von seiner besten Seite gezeigt hat, in einem möglichen Viertelfinale fehlen? Kann diese Mannschaft, die erst zwei Spiele zusammen bestritten hat, als geschlossene und eingespielte Einheit funktionieren, so wie die Basketball-Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft eine eingespielte Siegermaschine war?

Auf so viel Konstanz wie bei den Basketballern kann sich Nagelsmann nicht verlassen, aber seine Startaufstellung für die Länderspiele gegen Frankreich und die Niederlande hat er fast schon festgelegt. Allerdings gibt es ein mögliches Problem: "Im März hat sich eine Struktur herausgebildet, die aber noch fragil ist", sagte der Bundestrainer. Deshalb wolle er auch nicht zu viele neue Spieler, denn "dann bricht das Haus zusammen". Jetzt gelte es, "dem zart wachsenden Pflänzchen etwas Stabilität zu geben" und es "mit Trainingseinheiten zu füttern."

Julian Nagelsmann geht mit seinem Kader für die Europameisterschaft ein Wagnis ein. Seine Strategie könnte aufgehen. Aber die Uhr tickt: Die Mannschaft ist "zerbrechlich", weil sie im März nur zehn Tage zusammen war - reicht eine kurze Vorbereitung, zu der wegen des Champions-League-Finales auch noch Spieler aus Dortmund und Madrid stoßen, um aus dem Pflänzchen einen soliden, hochgewachsenen Baum zu machen? Ein Stolperstart würde die Begeisterung im Land deutlich dämpfen.

Der Druck ist immens. PR spielt auf dem Spielfeld keine Rolle mehr. Ein Sommermärchen und ein Titel sind zum Greifen nah. Obwohl die deutsche Nationalmannschaft seit 2016 jedes Turnier verloren hat, ist allgemein bekannt, dass Pflanzen unter diesen Bedingungen nur schwer gedeihen.

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Quelle: www.ntv.de

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