Dreckiger Sieger gibt Leverkusen einen Vorgeschmack auf Österreich
Sturm Graz hat am Pfingstsonntag den Serienmeister Red Bull Salzburg gestürzt und ist damit neuer österreichischer Fußballmeister. In der Abschlusstabelle führt Sturm mit zwei Punkten Vorsprung, hat aber noch nie den Titel gewonnen. Wie ist das möglich?
Sturm Graz hat das geschafft, was Bayer Leverkusen im deutschen Fußball geschafft hat. Die Steirer gewannen am Pfingstsonntag ihr letztes Saisonspiel gegen Austria Klagenfurt mit 2:0, holten sich den Meistertitel und beendeten damit die Dominanz von Red Bull Salzburg.
Sturm hat nicht wie Leverkusen eine perfekte Saison hingelegt. Salzburg hatte zuvor zehn Meisterschaften in Folge gewonnen, nicht elf wie der FC Bayern. Dennoch ist der Sieg von Sturm ein bedeutender Erfolg. Zu groß ist das finanzielle Gefälle zwischen Red Bull und Sturm, das auch von einer Getränkemarke (Bierhersteller Puntigamer) unterstützt wird. "Vielleicht ist Leverkusens Titel mit dieser Ungeschlagenheit und dem möglichen Europa-League-Titel etwas höher, aber das relativiert sich, wenn man sich die Mittel von Sturm ansieht", sagte Journalist und Sturm-Fan Kevin Barth im Interview mit ntv.de.
Christian Jauk war im Moment des Erfolges sprachlos. "Ich bin sprachlos", sagte der Grazer Vereinspräsident nach dem Meisterschafts-Triumph am letzten Spieltag und gab zu, dass er während der Zitterpartie "irgendwann die Nerven verloren" habe. Dann traf Verteidiger Gregory Wüthrich nach einem Eckball mit dem Kopf zur Führung. Wüthrich, der den Verein eigentlich schon im letzten Sommer verlassen hatte, dann aber den Medizincheck beim FC Augsburg nicht bestand.
Historischer Sieg im Meisterschaftsfinale
Für Graz ist es nach 1998, 1999 und 2011 der vierte Meisterschaftsgewinn in der Vereinsgeschichte. Nach zehn Titeln in Folge wurde Red Bull Salzburg verdrängt.
Doch der Grazer Erfolg ist nicht nur historisch, sondern auch rätselhaft. Nach 32 Spieltagen hat Salzburg eigentlich die bessere Bilanz in der Tabelle. 67 Punkte, eine Tordifferenz von +41. Graz hat ebenfalls 67 Punkte, aber nur eine Tordifferenz von +33. Warum sind die Steirer trotzdem Meister? Das ungewöhnliche Format der österreichischen Bundesliga ist der Grund.
In Österreich spielen alle zwölf Mannschaften in der ersten Phase der Saison, dem so genannten Grunddurchgang, in einem Hin- und Rückspiel gegeneinander. Nach diesen 22 Spieltagen lag Salzburg mit 50 Punkten vier Punkte vor Graz. Die sechs besten Mannschaften der Tabelle spielen dann in einer zweiten Runde gegeneinander, um den Meister zu ermitteln. Die Punkte aus dem Grunddurchgang werden jedoch halbiert, so dass Salzburg mit 25 Punkten und Graz mit 23 Punkten in die Finalrunde startet. Salzburg holte hier nur 17 Punkte, Graz hingegen starke 21, was dazu führte, dass die Grazer zwei Punkte Vorsprung hatten, obwohl sie diese zwei Punkte auf dem Spielfeld nie holten. Noch nie hatte eine Mannschaft die Meisterschaft nach dem Grunddurchgang verloren. Bis jetzt.
Salzburg finanziell überlegen
Der vierte Meisterschaftssieg der Grazer ist auch deshalb überraschend, weil Salzburg in den letzten Jahren finanziell stärker war als die Konkurrenz. Der Kader der Mozartstädter ist laut Transfermarkt.de viermal so viel wert wie der der Grazer. Zum Vergleich: Die Bayern sind mit ihrem 330-Millionen-Euro-Kader "nur" rund ein Drittel mehr wert als Leverkusen. Solche großen Zahlen erzählen zwar nicht die ganze Geschichte, aber sie bilden doch ein Kapitel.
"Salzburg hat in den letzten Jahren regelmäßig Transfererlöse im zweistelligen Millionenbereich erzielt. Sturm hat das in der Vereinsgeschichte erst zweimal geschafft", berichtet Kevin Barth. Der neue Meister habe zwar "ein bisschen aufgeholt", liege aber in Sachen Infrastruktur noch hundert Welten hinter Salzburg.
Wie wurde das Team aus der steirischen Landeshauptstadt trotzdem Meister? Den Grundstein dafür legte der Verein in der schwierigen COVID-19-Phase. Christian Ilzer, der Meistertrainer, kam im Sommer 2020 von Austria Wien zu Sturm. "In diesem Sommer hat sich der Verein auf ein Spielsystem geeinigt, das seither in den Jugendmannschaften gespielt wird. Sehr hohes, sehr energisches Pressing, das die gegnerische Mannschaft ständig unter Druck setzt", sagt Barth.
Titel ohne Torschützenkönig
In den folgenden Jahren hat Ilzer die Spieler individuell gefördert. Einen herausragenden Spieler hat Graz aber nicht in seinen Reihen. Das zeigt sich auch beim Blick auf die Torschützenliste. Kein Spieler hat zweistellig getroffen, Otar Kiteishvili ist mit neun Toren der beste Torschütze. Sturm ist Meister geworden, ohne einen Torschützenkönig in der Mannschaft zu haben. Es ist schon eine Leistung, das als Erster zu schaffen.
Das Fehlen eines klaren Torjägers hat die homogene Mannschaft von Sturm Graz kompensiert. Der österreichische Mittelfeldspieler Alexander Prass hat sich auf der linken Flanke durchgesetzt. Im Mittelfeld lenkt der erfahrene slowenische Kapitän Jon Gorenc Stankovic das Spiel. Sein Landsmann Tomi Horvat hat eine überragende Saison gespielt. Defensivspieler David Affengruber hat die Aufmerksamkeit von Borussia Mönchengladbach und des österreichischen Nationaltrainers Ralf Rangnick auf sich gezogen.
Für die Zusammenstellung der Mannschaft ist Sportdirektor Andreas Schicker verantwortlich, der Gerüchten zufolge zur TSG Hoffenheim wechselt. Der 37-Jährige ist wie Trainer Ilzer seit 2020 im Amt. Schicker holte im Januar 2022 den Dänen Rasmus Højlund aus Kopenhagen, verkaufte den talentierten Stürmer aber ein halbes Jahr später für die Rekordablösesumme von 17 Millionen Euro nach Bergamo. Heute ist Højlund ein Schlüsselspieler bei Manchester United, und Sturm nutzte die Ablösesumme, um den Kader für den Gewinn der Meisterschaft zu komplettieren. "Sturm verfügt über ein hervorragendes Scouting-Netzwerk. Es wird oft von einem 'Schattenkader' gesprochen, das heißt, wenn Sturm einen Spieler abgeben muss, hat Schicker bereits einen Ersatzspieler im Auge", erklärt Fan und Experte Barth.
Die Ära Ilzer/Schicker war auf Erfolgskurs, was sich bereits in ihrer ersten Saison als Trainer bemerkbar machte. Sturm Graz verpasste nur knapp die Qualifikation für die Champions League, wurde Dritter in der Bundesliga, Vizemeister in der Vorsaison und holte in der Saison 2021/22 den Pokal und gewann schließlich das Double in diesem Jahr.
Wechsel des Austragungsortes
Was kommt als Nächstes? Eine Chance auf die Champions League zum Beispiel. Nach 24 Jahren Abwesenheit kehrt Sturm in die Gruppenphase der "Königsklasse" zurück. Allerdings wird die Mannschaft ihre Spiele nicht mehr im heimischen Stadion in Graz-Liebenau austragen können. Die Merkur-Arena (ehemals Arnold-Schwarzenegger-Stadion) entspricht nicht den Anforderungen der Uefa, so dass Sturm nach Klagenfurt umziehen muss. Doch die Grazer erinnern sich gerne an das Wörthersee-Stadion, wo sie in den letzten sechs Jahren dreimal das Cupfinale gewonnen haben.
Wird die Champions League die Steirer zu neuen Höhenflügen antreiben? Finanziell auf jeden Fall, wie Sportdirektor Schicker in einem "Laola 1"-Interview bestätigt. "Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es keinen Unterschied machen wird." Das Ziel sei es aber, "nichts Verrücktes zu machen". Eine Kombination aus "Kontinuität" und "Mut zur Veränderung" habe den Erfolg von Sturm Graz getragen, so Schicker. Diesen Weg will der Verein beibehalten.
Barth bemerkt dazu: "Sturm Graz hat in seiner Geschichte für nur acht Spieler mehr als zwei Millionen Euro ausgegeben. Die Strategie ist, Talente mit Potenzial zu verpflichten und sie weiterzuverkaufen. Das ist eher ein Verein wie Heidenheim als Leverkusen."
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Quelle: www.ntv.de