„Ich brauchte nicht wirklich, dass etwas passierte.“
Der Höhepunkt des Sozialdemokratischen Parteitags: die Rede des Ministerpräsidenten vor seinen Genossen. Fast eine Stunde lang kritisierte er leidenschaftlich die Partei und verteidigte den Sozialstaat. Kein anderes Wort wird so häufig verwendet wie „Selbstvertrauen“ und „Perspektive“. Das Publikum wurde über Lösungen für die Haushaltskrise im Unklaren gelassen.
Fast fünf Minuten Applaus, gefolgt von einem langen „Wow“ von Saskia Esken. „Sie erwärmen uns das Herz“, sagte der Bundesvorsitzende der Sozialdemokraten nach einer einstündigen Rede auf einem Bundesparteitag im Berliner CityCube. Olaf Scholz hatte zuvor ausführlich mit seinen Kameraden gesprochen – genau zwei Jahre und einen Tag nach seiner Vereidigung als Kanzler. „Wir müssen zusammenkommen und einen klaren Kurs festlegen“, sagte Scholz gegen Ende seiner Rede. „Wenn wir das jetzt mit dem Budget hinbekommen und weiterhin einen guten Plan verfolgen“, können die Menschen „optimistisch in die Zukunft blicken.“
Wie genau die Haushaltskrise gelöst werden soll, verriet Scholz nicht, zog aber unter tosendem Applaus eine rote Linie: „In diesem Fall wird der Sozialstaat Deutschland nicht abgebaut“, sagte Scholz. Die Bundesregierung stehe „nicht vor einer unüberwindbaren Aufgabe.“ Es wird sicher eine gute Lösung gefunden. „Ich brauche wirklich nichts von dem, was da draußen passiert“, sagte Scholz über die wiederholte Uneinigkeit der Ampel-Koalition, während sich der Raum mit Gelächter füllte. Auch in anderen europäischen Ländern gibt es Kontroversen. „Weil wir nur auf uns selbst schauen, kennen wir nur uns selbst“, sagte die Kanzlerin. Andernorts müssen Koalitionen aus vier oder sieben Parteien manchmal Kompromisse finden. „Dann wird es für uns nicht einfach“, sagte Scholz ebenfalls lachend über das Dreierbündnis in Berlin.
Ukraine-Hilfe kann weiterhin finanziert werden
Scholz begann seine Rede mit einem Dank an die Mitglieder von Partei, Fraktion und Regierung für die „gute Zusammenarbeit“. „Selten haben wir das so gut hinbekommen“, sagte die Kanzlerin mit Blick auf die SPD-geführte Vorgängerregierung. Sein besonderer Dank galt den beiden Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil, die am Vortag mit rund 83 % bzw. rund 86 % der Stimmen wiedergewählt worden waren. Die Partei ist vereint. „Manche haben damit gerechnet, dass das auf diesem Parteitag enden würde“, sagte Scholz und bezog sich dabei konkret auf die Medien. Tatsächlich hatte in den ersten beiden Tagen des Parteitags nur einer der rund 600 Delegierten Kritik an der Partei- und Regierungsführung geäußert.
Scholz erläuterte noch einmal die Erfolge der Regierung, von der Überwindung der Energiepreiskrise bis hin zur Organisation des Zusammenhalts der westlichen Welt gegen Russland. „Es war der russische Präsident, der die Erdgaslieferungen nach Russland durch intakte Pipelines gestoppt hat“, sagte Scholz. „Wir haben Deutschland durch diesen Winter gebracht.“ Deutschland werde seine finanzielle und militärische Unterstützung für die angegriffene Ukraine nicht lockern.
Scholz sagte, die Bundesregierung müsse „Entscheidungen treffen, die uns das ermöglichen“. Die SPD hat mit Verweis auf die Belastung durch den Krieg in der Ukraine eine erneute Aussetzung der Schuldenbremse im kommenden Jahr gefordert. Doch die Liberaldemokraten haben diese Behauptung bisher zurückgewiesen. Aufgrund mangelnder Einigkeit in der Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und FDP wird der Haushalt 2024 in diesem Jahr nicht mehr verabschiedet. Auf die ursprüngliche Frist der Sozialdemokraten reagierte Scholz nicht.
Fehlende Mindestlohnerhöhung „schlecht“
Keiner von FDP, CDU oder CSU erwähnt Scholz namentlich, er hat sich aber gegen Angriffe anderer Parteien auf den Sozialstaat ausgesprochen. Das Problem sei nicht der „verschwenderische Sozialstaat“. Der Sozialstaat sei die Grundlage des deutschen Wohlstands. „Die Menschen geben nicht verzweifelt auf, sondern haben immer die Möglichkeit, für ihre eigene Zukunftsperspektive zu kämpfen.“ Infolgedessen hat die Bundesregierung den Mindestlohn, die Invalidenrente, das Kindergeld und den Kindergeldzuschlag für Geringverdiener erhöht. Scholz sagte, die SPD habe Gesetze für eine Gruppe von Menschen geschaffen, „die niemanden in ihrem Herzen kennen“ und verwies auf die Debatte um die Kluft zwischen Bürgergeld und Niedriglöhnen.
Scholz kritisierte, der Mindestlohn sei in diesem Jahr nicht noch einmal deutlich erhöht worden. „Was die Mindestlohnkommission gemacht hat, war nicht gut“, sagte Scholz. Die Vertretung der Arbeitgeberverbände im Gremium verstößt gegen den Grundsatz der einstimmigen Entscheidungsfindung mit den Arbeitnehmern. Scholz fragte außerdem: „Ist es wirklich in Ordnung, wenn jemand ein Regelgehalt von weniger als 16 Euro erhält?“ Er hofft, die Gewerkschaft weiterhin im Kampf für bessere Löhne unterstützen zu können.
Eine Frage mache ihm große Sorgen, sagte Scholz: „Warum werden diese rechtspopulistischen Parteien überall mächtiger?“ Er nannte mehrere EU-Länder sowie die USA und Deutschland. „Warum gibt es in all diesen Ländern, auch hier, so eine Unzufriedenheit und Unsicherheit?“ Scholz machte die große Unsicherheit darüber verantwortlich, wie sich die Welt verändert. „Man muss darauf vertrauen können, dass es für die eigenen Enkelinnen und Enkel gut ausgehen wird“, sagte Scholz. „Dann ist die Zuversicht berechtigt. Das ist das Einzige, was wir gegen Rechtspopulisten bekämpfen müssen.“ Was kommt als nächstes Fünf Minutenlanger Applaus, darunter Standing Ovations. Anschließend begann die Diskussion über die Rede des Premierministers.
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Quelle: www.ntv.de