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Was Sie über das neue Wahlrecht wissen müssen

Nach der Verkündung des Urteils verlassen die Richter den Sitzungssaal des...
Nach der Verkündung des Urteils verlassen die Richter den Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe

Was Sie über das neue Wahlrecht wissen müssen

In Zukunft wird der Bundestag nur noch 630 Mitglieder haben. Das ist immer noch viel, aber die ständige Ausweitung des Parlaments wurde gestoppt. Auch gestoppt wurde eine anti-CSU-Klausel im neuen Wahlgesetz.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlrechtsreform der Ampelkoalition passt nur teilweise in die Kategorien Sieg und Niederlage. Wahrscheinlich am besten ist es, es so zu sehen: Die Richter haben den Kern der Reform einstimmig gebilligt - ein Sieg für die Ampelkoalition. Gleichzeitig haben sie die Abschaffung der sogenannten Grundmandatsklausel für verfassungswidrig erklärt - was sicherlich als Rückschlag für die Koalition betrachtet werden kann.

Der Rückschlag

Die Grundmandatsklausel (auch Constituenzklausel genannt) ist eine Besonderheit des deutschen Wahlrechts. Sie regelt Folgendes: Wenn eine Partei die Fünf-Prozent-Hürde nicht erreicht, aber mindestens drei Direktmandate gewinnt, wird die Fünf-Prozent-Hürde für diese Partei quasi ausgesetzt. Konkret bedeutet das: Nicht nur die drei Wahlkreisgewinner treten für diese Partei in den Bundestag ein - sondern die Partei erhält so viele Sitze, wie sie aufgrund des Zweitstimmenergebnisses erhalten hätte. Das ist bisher in vier Bundeswahlen passiert, zuletzt 2021. Die Linke erhielt nur 4,9 Prozent, kam aber trotzdem mit 39 Mitgliedern in den Bundestag, weil drei ihrer Wahlkreisbewerber ein Direktmandat gewannen.

Die Abschaffung dieser Grundmandatsklausel, die von der Ampelkoalition geplant war, wurde vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt und thus gestoppt. Das entlastet nicht nur die Linke, sondern vor allem die CSU. Obwohl sie noch nie unter 5 Prozent in einer Bundeswahl gelegen hat - die sogenannte Schwellenklausel - lag sie beim letzten Mal nur bei 5,2 Prozent. Ohne die Grundmandatsklausel ist es vorstellbar, dass die CSU alle oder fast alle Wahlkreise in Bayern gewinnen und trotzdem nicht im Deutschen Bundestag vertreten wäre.

Das Bundesverfassungsgericht wollte eine solche anti-CSU-Klausel nicht akzeptieren: "Wenn Parteien, die eine gemeinsame Fraktion bilden wollen, gemeinsam bei der Anwendung der Schwellenklausel behandelt werden, bedeutet dies eine ungleiche Behandlung gegenüber anderen Parteien", erklärten die Richter in ihrer Begründung. Das bedeutet: Die Zusammenarbeit zwischen CDU und CSU ist so lange und eng, dass es sehr unfair wäre, die CSU mit einer strikten Fünf-Prozent-Hürde aus dem Bundestag herauszuhalten. Es wird interessant sein zu sehen, wie diese sehr konkrete Beziehung zwischen CDU und CSU in ein abstraktes Gesetz gegossen wird. Aber vorerst ist das nicht notwendig, weil die Grundmandatsklausel in ihrer alten Form bleibt, bis eine neue Regelung gefunden wird.

Anders verhält es sich mit dem Verhältniswahlsystem**: Dann werden nicht einzelne Personen, sondern Listen - also Parteien - gewählt. Zum Beispiel in den Niederlanden, wo eine Partei, die 20 Prozent der Stimmen erhält, auch mit 20 Prozent der Sitze im Parlament vertreten ist - zumindest mehr oder weniger, wie mathematische Gründe erfordern, dass eine Partei eine Mindestzahl von Stimmen gewinnen muss, um einen der 150 Sitze zu erringen.

In Deutschland folgt die Zweitstimme dem Verhältniswahlsystem (obwohl nicht über landesweite Listen, sondern über Landeslisten; landesweite Listen gibt es nur bei Europawahlen). Diese Zweitstimme wurde durch die Reform gestärkt.

Keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr

Das zentrale Ziel der Wahlrechtsreform war es, die ständige Ausweitung des Bundestags zu stoppen. Seit der 15. Legislaturperiode (2002 bis 2005) beträgt die statutarische Größe des Bundestags 598 Sitze. Trotzdem gab es immer mehr Mitglieder: erst ein paar mehr, dann zunehmend mehr und derzeit viele mehr. Nach der Bundestagswahl 2021 hatte das Parlament 736 Sitze - so viele wie nie zuvor. Das ist auf die sogenannten Überhang- und Ausgleichsmandate zurückzuführen, die dazu dienen sollen, den Gegensatz zwischen proportionalem und Mehrheitswahlsystem auszugleichen.

Bislang galt, dass eine Partei, die mehr Direktmandate mit der Erststimme gewann, als ihr zustehen (basierend auf dem Zweitstimmenergebnis) Überhangmandate erhielt. Um zu verhindern, dass das Zweitstimmenergebnis zu stark verzerrt wird, erhielten andere Parteien gleichzeitig Ausgleichsmandate. Je mehr die Zweitstimmen auf mehr Parteien verteilt sind, desto mehr Überhang- und Ausgleichsmandate gibt es. Nach der Bundestagswahl gab es 34 Überhangmandate und 104 Ausgleichsmandate. Die meisten Überhangmandate gingen an CDU und CSU, während die meisten Ausgleichsmandate an die SPD gingen, die auch zehn Überhangmandate erhielt.

In Zukunft wird es keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr geben; das Bundesverfassungsgericht hatte keine Einwände gegen diese Reform. Stattdessen erklärten die Richter, dass Überhangmandate "die Chancengleichheit beeinträchtigen". Sie erklärten auch das Zweitstimmenabdeckungsverfahren, das die Ampelkoalition neu eingeführt hat, für verfassungsgemäß - einstimmig.

Der Kern der Reform - und der Sieg der Ampelkoalition

Das ist das zentrale Element der Reform: Es soll sicherstellen, dass die Zusammensetzung des Bundestags zuerst dem Zweitstimmenergebnis entspricht und zweitens nicht aus dem Ruder läuft. Denn die Reform schafft eine feste Obergrenze von 630 Mitgliedern. Das ist im internationalen Vergleich immer noch viel, aber zumindest ist das Wachstum gestoppt.

Die zweite Wahlumfangsvorschrift funktioniert wie folgt: Basierend auf dem Ergebnis der zweiten Wahl wird die Verteilung der 630 Sitze unter den Parteien festgelegt. Dabei wird auch berücksichtigt, wie stark die Ergebnisse der Parteien in den einzelnen Bundesländern sind - wenn beispielsweise eine Partei in Rheinland-Pfalz deutlich besser abschneidet als in Sachsen, dann wird es auch mehr Mitglieder aus Rheinland-Pfalz in ihrer Fraktion geben als aus Sachsen, obwohl beide Bundesländer etwa die gleiche Bevölkerung haben.

Allerdings werden, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach diesem Verfahren zustehen, Schnitte von unten vorgenommen: Die Listenplatzgewinner mit den schlechtesten Ergebnissen kommen nicht ins Parlament. Dies kann dazu führen, dass ein Wahlkreis in Zukunft nicht mehr durch einen eigenen Abgeordneten im Bundestag vertreten ist. Die CSU kritisiert dies insbesondere, da sie besonders von dem System der Überhang- und Ausgleichsmandate profitiert hat. Hier will sie die Reform zurückdrehen.

"Dass die Wahlkreise nicht besetzt werden, ist für mich kein dauerhaft akzeptabler Zustand - das müssen wir in der nächsten Legislaturperiode ändern", sagte Andrea Lindholz, stellvertretende Vorsitzende der Union, bei ntv. Hier dreht sich die Debatte im Kreis: Ohne Zweitstimmenausgleich würde der Bundestag weiterhin ungebremst wachsen - es sei denn, die Zahl der Wahlkreise würde drastisch reduziert, zum Beispiel von den derzeitigen 299 auf 200. Sogar die Große Koalition konnte sich nur auf eine Reduzierung auf 280 Wahlkreise einigen.

Was passiert als nächstes?

CDU-Chef Friedrich Merz hat den Ampelkoalitionsgesprächen über eine neue Wahlrechtsreform angeboten. Gleichzeitig kündigte er an: "Wenn die Ampelkoalition dazu nicht bereit ist, muss das Wahlrecht in der nächsten Legislaturperiode erneut geändert werden." Und er verknüpfte das Angebot von Gesprächen mit massiver Kritik: "Der Versuch der Ampelkoalition, politische Konkurrenten mit dem Wahlrecht auszuschalten, ist gescheitert." CSU-Chef Markus Söder sprach sogar von einem "gescheiterten Wahlmanipulationsversuch", der "aufgedeckt und zurückgewiesen wurde".

Diese Kritik hat die Ampelkoalition wiederum verärgert: "Die Union geht mit ihrer Tonart deutlich zu weit", sagte die SPD-Fraktionsvorsitzende Katja Mast bei ntv.de. "Es ist höchste Zeit, dass man sich verbal entspannt." Kritik ist okay, "aber was hier passiert, ist gefährlich für die Akzeptanz des Gerichtsurteils und unsere Demokratie."

Angesichts solcher Aussagen ist es fraglich, ob es vor der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2025 noch einmal eine Wahlrechtsreform geben wird.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung, die Abschaffung der Grundmandatsklausel für verfassungswidrig zu erklären, Parteien wie der CSU eine Erleichterung verschafft, da ihre strenge Fünf-Prozent-Hürde siepotentiell vom Bundestag ausschließen würde, wenn diese Klausel umgesetzt würde. Der Deutsche Bundestag wird auch in Zukunft 630 Mitglieder haben, da das Gericht den Kern der Wahlrechtsreform genehmigt hat, der darauf abzielt, die permanente Erweiterung des Parlaments zu stoppen.

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