zum Inhalt

Umstrittene Mobilisierung: Kiew hofft, den Soldatenmangel zu beheben

Moskau setzt darauf, dass der Ukraine die Kombattanten ausgehen werden. Für Kiew ist es eine heikle Aufgabe, mehr Soldaten zu finden. Was ist Selenskyjs Plan?

Ukrainische Soldaten üben während der militärischen Ausbildung Panzer. Foto.aussiedlerbote.de
Ukrainische Soldaten üben während der militärischen Ausbildung Panzer. Foto.aussiedlerbote.de

Russischer Angriffskrieg - Umstrittene Mobilisierung: Kiew hofft, den Soldatenmangel zu beheben

Für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist die Mobilisierung neuer Soldaten zur Bekämpfung der russischen Invasion ein wichtiges Anliegen. „Das Thema Mobilisierung ist ein sehr heikles Thema“, sagte Selenskyj am Dienstag in Kiew.

Seit Monaten fordern Kommandeure der mit westlichen Waffen ausgerüsteten Streitkräfte mehr Frontkämpfer. Gerüchten zufolge werden zusätzlich 450.000 bis 500.000 Soldaten benötigt. Doch neben den Kosten, die laut Selenskyj bei rund 500 Milliarden Griwna (12,2 Milliarden Euro) liegen und noch aufgebracht werden müssen, stellt sich auch die Frage der Motivation.

Flucht und Bestechung

Tausende Männer versuchten, dem Militärdienst durch Flucht ins Ausland zu entgehen. Die Grenzkontrollen sind streng, Beamte durchsuchen Autos und reißen Tafeln von Zügen ab. An der Grünen Grenze wurden mehrfach Männer aufgegriffen. Es sind auch zahlreiche Fälle bekannt, in denen Wehrpflichtige in Wehrdienstämtern im Austausch für ihre Entlassung bestochen wurden.

Während der Krieg in sein drittes Jahr geht, muss sich Selenskyj nicht nur über den Zusammenbruch der finanziellen Unterstützung durch westliche Verbündete Sorgen machen, deren Vorräte schwinden, sondern er hat auch einen dringenden Bedarf an Waffen und Munition. Vor allem möchte die Militärführung, dass er Personalprobleme löst. Jeden Tag wurden viele Menschen getötet und verletzt und Tausende ukrainischer Soldaten wurden gefangen genommen.

Der Kreml bietet hohe Gehälter

Kremlchef Wladimir Putin, der seit dem 24. Februar 2022 einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, setzt schon lange darauf, dass dem Nachbarn irgendwann die Kampfflugzeuge ausgehen werden. Der russische Präsident erhöhte nicht nur die Zahl der Soldaten, sondern lockte auch Tausende Freiwillige an die Front, insbesondere solche mit relativ hohen Löhnen. Putin sagte, die Initiative im Krieg liege erneut in den Händen russischer Soldaten, während die Ukrainer in der Defensive seien.

Die russische Armee erlitt vor allem im ersten Kriegsjahr zahlreiche Niederlagen. Aber sie besetzen immer noch fast ein Fünftel des Territoriums der Ukraine. Von den mehr als 800.000 Soldaten der ukrainischen Streitkräfte sollen etwa 300.000 direkt an der knapp 1.000 Kilometer langen Frontlinie im Einsatz sein.

Männer sollten sich versammeln

Auf Märkten, Einkaufszentren, Restaurants, Fitnessstudios und Spas wird händeringend nach neuen Soldaten gesucht. Oft kamen Soldaten, zum Teil schwer bewaffnet, und versuchten, die Menschen zur Versammlung zu bewegen. Selenskyj sagte dieses Jahr auf einem EU-Treffen in Brüssel: „Wir können nicht wie Russland einen Knüppel benutzen, um jemanden zu vertreiben.“ Es kursierten jedoch Videos, die zeigten, wie Männer, die nicht kämpfen wollten, geschlagen und gewaltsam entfernt wurden Militärisches Ersatzbüro.

Selenskyj entließ im August alle regionalen Leiter der regionalen militärischen Ersatzbüros, nachdem es Berichte über niedrige Einberufungsquoten, systematische Aufkäufe von Militärdiensten und Korruption an der Spitze des Rekrutierungsbüros gab. Die Zahl der Mobilisierungen ging jedoch weiter zurück.

Chef des Militärgeheimdienstes: Sie sind auf der Flucht

Medienberichten zufolge werden die Rekrutierungspläne insbesondere in Großstädten derzeit nur zu einstelligen Prozentsätzen abgeschlossen. Die Zahl der Flüchtlinge steigt, obwohl Männer im Wehrpflichtalter zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen. Wie vielen Menschen die Flucht gelang, lässt sich nur schätzen. Laut Eurostat wurden allein im Oktober mehr als 700.000 ukrainische Männer im Alter von 18 bis 64 Jahren als Flüchtlinge in EU-Ländern registriert.

Kyrylo Budanov, der Chef des Militärgeheimdienstes der Ukraine, gab eine Erklärung ab. Ihm zufolge schreien die meisten Menschen gerne: „Ich bin Ukrainer – zuerst Ukrainer.“ Aber im Wesentlichen fühlen sie sich nicht als ukrainische Staatsbürger und glauben daher nicht, dass sie eine „heilige Pflicht“ haben, die Ukraine zu verteidigen. „Alle beten für die Ukraine, aber sie laufen weg“, sagte ein Geheimdienstagent kürzlich bei einer Diskussionsveranstaltung. Lücken an der Front können nicht mehr durch Freiwillige geschlossen werden. Daher kann der Staat einer erzwungenen Mobilisierung nicht entgehen.

Unpopuläre Lösung

Angesichts der schwierigen Situation war die Regierung gezwungen, unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen. Um mehr als 400.000 junge Menschen besser erreichen zu können, wird das Alter der Reservisten von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Darüber hinaus wurde der Standard der Diensttauglichkeit abgeschwächt – Männer, denen nur ein Arm oder Unterschenkel amputiert war, galten daher als diensttauglich. Auch die Frage der Einberufung von Frauen in die Armee wurde diskutiert. Allerdings weigerte sich Selenskyj bisher, irgendwelche Gesetzesänderungen vorzunehmen. Mehr als 5 % der Angehörigen der Streitkräfte (ca. 43.000) sind Frauen, mehr als 5.000 von ihnen kämpfen direkt an der Front. Es gibt noch keine schnelle Lösung. Der frühere Außenminister Vadim Pristako brachte kürzlich die Idee ins Spiel, westliche Soldaten – etwa aus Großbritannien – einzusetzen. Dies sei ein Ansatz, „wenn der Krieg eine katastrophale Wendung nimmt“. Bisher besteht die sogenannte Internationale Legion nur aus freiwilligen Ausländern, funktioniert aber kaum noch.

Der Einsatz ausländischer Soldaten war bei westlichen Verbündeten bisher tabu. Aber die Ukraine war immer stolz darauf, dass der Westen mit seinen Panzern, Raketen und angekündigten Flugzeuglieferungen auch andere Tabus über Bord geworfen hat. Die Hoffnung auf Hilfe ist groß.

Lesen Sie auch:

Quelle: www.stern.de

Kommentare

Aktuelles