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Massenmord als Schreiber?

Eine frühere Sekretärin des Stutthof-Konzentrationslagers wurde der Beihilfe an über 10.000 Morden schuldig gesprochen. Der Bundesgerichtshof entscheidet, ob dieses Urteil Bestand hat.

Der Bundesgerichtshof überprüft das Urteil gegen eine frühere Sekretärin des Konzentrationslagers...
Der Bundesgerichtshof überprüft das Urteil gegen eine frühere Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig.

- Massenmord als Schreiber?

Wie weit reicht die Schuld derer, die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern dienten und systematisches Mord dort ermöglichten? Diese Frage wurde am Mittwoch vom Bundesgerichtshof in Leipzig diskutiert. Der 5. Strafsenat muss entscheiden, ob eine zivile Schreibkraft in einem Konzentrationslager in mehr als 10.000 Fällen Mithilfe an nationalsozialistischem Massenmord geleistet haben könnte. Das Urteil wird am 20. August verkündet. Der Fall gilt als wahrscheinlich letzte große Verhandlung in der Aufarbeitung nationalsozialistischer Massenmorde.

Das Landgericht Itzehoe in Schleswig-Holstein hatte die ehemalige Konzentrationslager-Sekretärin Irmgard F. im Dezember 2022 wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und in fünf Fällen wegen Beihilfe zum versuchten Mord zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Die nun 99-Jährige war als Sekretärin im Büro des Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig zwischen Juni 1943 und April 1945 tätig. Ihre Anwälte hatten gegen das Urteil Berufung eingelegt, die nun in Leipzig verhandelt wird.

Verteidigung sieht entscheidende Rechtsfragen unbeantwortet

Die Anwälte der Frau, Wolf Molkentin und Niklas Weber, sahen in dem Urteil des Landgerichts Itzehoe entscheidende Rechtsfragen unbeantwortet. Sie stellten die Frage, ob die Angeklagte als junge Schreibkraft wirklich Mithilfe an den Taten des Lagerkommandanten und anderer Haupttäter im Konzentrationslager geleistet hatte. Ihre Arbeit habe sich nicht wesentlich von ihren vorherigen Aufgaben in einer Bank und ihrem späteren Job in einer Klinik unterschieden. Sie habe "neutrale Handlungen" ausgeführt.

Sie zweifelten auch daran, ob bei ihr Vorsatz bewiesen werden konnte. "Ist ihr denn wirklich bewusst geworden, was im Lager vor sich ging?", fragte Molkentin. Das Landgericht Itzehoe hatte angenommen, dass Irmgard F. durch ihre Arbeit "psychologische Unterstützung" geleistet hatte. Der Großteil der Korrespondenz im Konzentrationslager ging über ihren Schreibtisch, sie diente dem Lagerkommandanten loyal und unterstützte ihn in seinen Handlungen. Anwalt Molkentin verwies auf die strengen Hierarchien in der Lagerverwaltung. "Keine psychologische Unterstützung war von unten nötig", sagte er.

Molkentin beantragte einen Freispruch für Irmgard F. oder zumindest eine Zurückverweisung des Falls an das Landgericht zu einer neuen Verhandlung. Die 99-Jährige war nicht in Leipzig anwesend - sie musste nicht anwesend sein.

Bundesgeneralstaatsanwalt fordert Ablehnung der Berufung

Der Bundesgeneralstaatsanwalt hatte die mündliche Verhandlung in Leipzig beantragt. Der Fall biete dem BGH möglicherweise die letzte Gelegenheit, wichtige Fragen zu klären, sagte der Vertreter. Er führte aus, dass das Urteil des Landgerichts Itzehoe gerechtfertigt sei. Irmgard F. habe sich durch ihre Bereitschaft zu dienen für die Mordtaten im Konzentrationslager Stutthof zur Verfügung gestellt. Er forderte die Ablehnung der Berufung der Angeklagten. Auch die Anwälte der übrigen 23 Mitangeklagten forderten dies.

Am Ende der Verhandlung verlas der Anwalt eines nun 96-jährigen Mitangeklagten eine Erklärung des Mannes, der in Israel lebt. Das Konzentrationslager Stutthof sei zur Zeit seiner Internierung ein monströser Vernichtungslager gewesen, hieß es darin. "Wer behauptet, er habe nur Befehle befolgt, ist in meiner Meinung nach Mithilfe an der Vernichtungsmaschinerie", sagte er. Er wünsche sich, dass die Angeklagte einen Fehler eingesteht und Reue zeigt.

Der laufende Prozess in Leipzig betrifft eine zivile Schreibkraft, die potentiell als Mithilfe an nationalsozialistischem Massenmord in über 10.000 Fällen in einem Konzentrationslager betrachtet werden könnte. Wie von der Verteidigung argumentiert, bleiben Fragen offen, ob die Frau als junge Schreibkraft eine wesentliche Rolle in den Taten des Lagerkommandanten und anderer Haupttäter hatte.

Trotz der Argumente der Verteidigung hat der Bundesgeneralstaatsanwalt das Gericht aufgefordert, die Berufung abzulehnen, da die verurteilte Frau sich bereitwillig im Konzentrationslager eingesetzt habe, indem sie sich für die Mordtaten zur Verfügung gestellt habe.

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