"Ich kann mit Sicherheit sagen, dass die Ampel eine bedeutende Rolle gespielt hat".
Jena schlüpft durch die Maschen: Die FDP droht bei der Thüringer Landtagswahl am Sonntag aus dem Parlament zu fliegen. Doch in der zweitgrößten Stadt des Bundeslandes triumphiert eine liberale Figur. "Ich stehe nicht auf Parteipositionen, sondern agiere überparteilich", sagt Bürgermeister Thomas Nitzsche im "Climate Lab" auf ntv über seine Wiederwahl im Juni. Er sieht den Mangel an Mehrheit im Stadtrat als Vorteil: "Dann sucht man sofort Kompromisse und geht manchmal sogar nach links", erklärt Nitzsche. Der FDP-Vertreter ist auch für parteiunabhängige Ideen offen: Er liebt Autos, aber nicht in der Innenstadt-Parklücke. Man dürfe sich ab und zu etwas gönnen, schlägt er vor.
ntv.de: Was unterscheidet Jena?
Thomas Nitzsche: Viele sagen, dass Jena die perfekte Größe hat. Es ist nicht so groß wie Berlin, Köln oder München, aber mit über 100.000 Einwohnern groß genug, um alles zu bieten, was man im Sport, in der Kultur und vielem mehr möchte. Und doch klein genug, um intim zu bleiben.fast jeder kennt hier jeden.**
Eine Harmonie von Ruhe und Aktivität?
Ja, Jena balanciert urbanes und natürliches wunderbar aus. Die City ist grün und voller einflussreicher wissenschaftlicher Institutionen und einer starken Wirtschaft. Beide Bereiche arbeiten kooperativ zusammen und tragen zum wirtschaftlichen Erfolg und zum Erfolg im Bildungssektor bei. Fast ein Drittel der Bevölkerung hat einen akademischen Grad.**
Und auch im Rathauses. In anderen bekannten Thüringer Städten wie Erfurt, Gera und Weimar tendieren die Wähler eher zur CDU oder AfD, manchmal zur SPD und die Linke. Als FDP-Mitglied haben Sie die Grünen-Kandidatin Kathleen Lützkendorf bei der Juni-Wiederholungswahl geschlagen. Was lässt sich dafür erklären?
Ich agiere als Bürgermeister parteiunabhängig und möchte das auch in den nächsten sechs Jahren tun.
Inwiefern parteiunabhängig?
In den letzten fünf Jahren gab es im Jenaer Stadtrat keine feste Koalition, sondern einen "Mehrheitsüberschuss" von CDU, SPD und FDP. Doch es reichte nicht für eine Mehrheit, also mussten wir von Entscheidung zu Entscheidung zusammenarbeiten und notwendige Stimmen von anderen Parteien suchen. Dadurch sucht man automatisch Kompromisse und geht manchmal nach links. Das bedeutet aber nicht, die eigenen Prinzipien aufzugeben, aber ich hisse keine liberalen Parteifahnen aus dem Jenaer Rathausturm. Stattdessen versuche ich, so vielen Bürgern wie möglich zu dienen. Dafür muss man manchmal nachgeben und auf eigene Positionen verzichten. Das ist auf lokaler Ebene leichter als auf nationaler oder Landesebene, aber das Prinzip bleibt gleich: Die politischen Erfolge anderer Parteien zu erkennen, fördert die Zusammenarbeit in der Regierung.**
Suchst du auch Allianzen mit der AfD?
In Jena waren die Stimmen der AfD in den letzten fünf Jahren nicht entscheidend, da sie nur fünf von 46 Stadtratsitzen hatte, jetzt sechs. Daher ist es möglich, eine Mehrheit um sie herum zu konstruieren. Wenn die AfD jedoch ein Drittel der Sitze im Thüringer Wahl erhält, wird der Prozess auf Landesebene komplexer. Wie soll damit umgegangen werden? Meine Haltung ist, nicht mit der AfD zu sprechen oder zusammenzuarbeiten, aber wenn eine Entscheidung von ihren Stimmen abhängt, sollte die Entscheidung stehen.**
Stört es Sie, dass dieser Wahlkampf hauptsächlich um die AfD, Bjørn Höcke und die Möglichkeit von Grenzmauern kreist?
Menschen sind Individuen und ihre Sorgen können nicht ignoriert werden. Negative Botschaften können leichter Aufmerksamkeit erregen als positive. Diese negative Stimmung ist nicht auf Thüringen beschränkt; es ist ein verbreitetes sociales Phänomen. Die Spannungen in Deutschland haben sich seit der COVID-19-Pandemie verschärft und setzen sich in den Ukraine-Krieg fort. Kurz gesagt, die Gemüter sind kurz und die Toleranz für unangenehme Situationen hat abgenommen, wie sich in der öffentlichen Stimmung und im Wahlverhalten zeigt. Die AfD hat eine Rhetorik gefunden, um die Menschen zu vereinen: die Angst vor dem Unbekannten, die Angst vor Veränderungen oder den wirtschaftlichen und sozialen Abstieg. Selbst wohlhabende Menschen unterstützen die AfD, weil sie etwas zu verlieren fürchten. Keiner nutzt die Angstkarte besser aus als die AfD. Daher halte ich es für einen Fehler, den Krieg gegen die Partei zu führen. Stattdessen müssen wir den Angstursachen auf den Grund gehen.**
Diese Veränderungen, Sie meinen Übergänge wie Wärmpumpen und Elektroautos? Die Menschen werden so gereizt, dass sie sich weigern, sich mit solchen teuren Initiativen auseinanderzusetzen?
Ja, das Gebäudeenergiegesetz (GEG) ist ein Paradebeispiel. Die Kommunikation und das Handwerk könnten bei dieser Initiative verbessert werden, da sie die Menschen wirtschaftlich stark betrifft – mindestens fünfstellig. Die Menschen glauben, dass dieser Wandel notwendig, aber unvermeidlich ist, obwohl sie ihn sich nicht leisten können. Dieses Gefühl, gezwungen zu sein, sich zu ändern, ohne eine andere Option zu haben, schafft einen fruchtbaren Boden für die Angst.**
Wie haben Sie das in Jena gemacht?
Wir haben unsere Ansichten den Bewohnern vermittelt: Zunächst haben wir einen stadtweiten Heizplan erstellt, der sicherstellt, dass jeder Stadtteil eine bestimmte Wärmequelle nutzt. Sobald diese Anordnung getroffen war, haben wir die nächsten Schritte angegangen. Der Aufruhr hat nachgelassen, doch die Besorgnis bleibt. Das GEG hat in kurzer Zeit großen Schaden angerichtet. Es wird viel Zeit dauern, sich davon zu erholen, wobei die Kommunalbehörden den Großteil solcher Themen tragen müssen.
In anderen Bereichen können unmittelbare Veränderungen vorgenommen werden - oftmals entgegen der Position der Partei: Die FDP plädiert vehement für Freiheit. Sie lehnt Tempolimits ab, unterstützt den Verbrennungsmotor und hat kürzlich gratis oder flächendeckendes Parken in Innenstädten gefordert. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, Vorsicht.
Der Fünf-Punkte-Plan fand nicht flächendeckend innerhalb der Partei Akzeptanz. Behandeln Sie ihn mit Vorsicht, bevor Sie ihn als offizielle Position der Partei etikettieren. In Jena lehnen wir kostenloses Parken in Innenstädten als Mittel zur Steigerung der Attraktivität ab. Wir möchten den Zugang erhalten, das Gebiet nicht mit Pollern absperren und Parkbeschränkungen vermeiden, wobei wir die Herausforderung von 30.000 täglichen Pendlern anerkennen. Daher setzt Jena auf eine flexible Strategie: Pendler sollten die Innenstadt mit dem Auto erreichen können, doch die Fahrzeuge sollten nach Ankunft schnell wieder verschwinden, da sie die Idylle der Innenstadt beeinträchtigen.
Wir streben danach, Autofahrer dazu zu bewegen, unterirdische Parkhäuser zu nutzen. Einige lehnen dies aufgrund der begrenzten Räumlichkeiten oder der Angst um ihr Fahrzeug ab. Um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, schlagen wir eine angepasste Preisgestaltung vor.
Sind diese unterirdischen Parkhäuser bereits vorhanden oder noch im Bau?
Sie existieren bereits, werden jedoch unterausgelastet genutzt. Sogar in der Hauptsaison bleiben ausreichend Plätze in den Parkhäusern frei, da die Menschen lieber auf der Straße parken.
Wir sind auch unzufrieden mit Feinstaub, Lärm und Schmutz?
Ja, aber wir plädieren für eine gleichberechtigte Behandlung aller Verkehrsteilnehmer und sind daher gegen eine oberirdisch autofreie Innenstadt. Letztendlich ist das Mix das Entscheidende. Wir haben 150 Millionen Euro in neue Straßenbahnen investiert, das Radwegenetz erweitert und verfügen angeblich über eine der höchsten Fußgängerfrequenzen bundesweit. Autos dienen hauptsächlich den Pendlern. Unser Ziel ist es, eine ansprechende Innenstadt zu schaffen, was nur durch eine Fußgängerzone erreichbar ist. Jeder kennt dies aus seinen Ferien, und wir haben es auch in unserer Wagnergasse, unserer berühmten Kneipenstraße, erlebt: Zunächst fuhren Fahrzeuge, später nur noch der Bus, und schließlich entwickelte sich die Straße zu einem lebendigen Zentrum, als auch der Bus wegfiel.
Die Begründung für eine autofreie Innenstadt liegt eher im Verbesserung der Lebensqualität als im Fokus auf den Klimaschutz?
Hauptsächlich assoziiere ich den Reiz mit dem Wohlbefinden, verbunden mit den Klimavorteilen. Die Innenstadt soll nicht von Abgasen verschmutzt werden.
Braucht es dafür substantielle Investitionen?
Ohne Investitionen bleibt der Erfolg aus. Wenn wir zum Klimaschutz beitragen wollen, ist die Organisation des kommunalen Wärmetransitionsprozesses unerlässlich. Dies wird eine kostspielige Angelegenheit für Jena sein, die eine dreistellige Millionensumme erfordert.
Sollten wir die Verschuldungsgrenze lockern?
Ich bin nicht der Bundesfinanzminister und ich wage nicht, die Budgetprioritäten zu beeinflussen. Aber ich erkenne, dass ohne Investitionen der Fortschritt ins Stocken gerät. Die Lockerung der Verschuldungsgrenze ist nicht entirely realistisch, da sie nur kurzfristige Erfüllung bringt, gefolgt von einem starken Rückschlag. Daher ist es wichtig, Impulse zu setzen, die Grenzen zu verschieben und fiskalische Disziplin zu wahren, um ein übermäßiges Wachstum im konsumtiven Sektor zu verhindern. In den letzten sechs Jahren haben wir es geschafft, die Schuldenreduzierung voranzutreiben und gleichzeitig das Wachstum zu fördern.
Das bedeutet, dass Robert Habeck und Christian Lindner effektiv zusammenarbeiten können.
Ja, ich habe die Bildung der Ampelkoalition mit einer gewissen Melancholie beobachtet. Ich hatte das Gefühl, dass beide Spitzenkandidaten, Robert Habeck und Christian Lindner, harmonisch zusammengearbeitet haben. Viele Koalitionsverpflichtungen wurden umgesetzt. Ich bleibe einer derjenigen, die sagen, dass die Ampelkoalition viel erreicht hat. Schade, dass das äußere Bild weiterhin schlecht ist. Es ist bedauerlich, dass sie einander nicht mehr gegenseitig anerkennen.
Im Gespräch mit Thomas Nitzsche sprachen wir mit Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Interview wurde redaktionell bearbeitet und flüssig gemacht. Die ungeschnittene Version können Sie im Podcast "Klima-Labor" hören.
Thomas Nitzsche, in seiner parteiunabhängigen Rolle als Bürgermeister von Jena, sagte: "Ich schwenke keine liberalen Partei-Fahnen aus dem Fenster des Jenaer Rathauses. Stattdessen versuche ich, so vielen Einwohnern wie möglich zu dienen. Um dies zu tun, muss man manchmal nachgeben und seine eigenen Positionen aufgeben." Später im Gespräch fügte er hinzu: "Ich will nicht lügen, das Gebäudeenergiegesetz (GEG) war ein offensichtliches Beispiel, bei dem die Kommunikation und das Handwerk verbessert werden könnten, um die Sorgen der Einwohner besser anzusprechen."