Die Fußball-Europameisterschaft wird plötzlich richtig hässlich
"Die ersten Tage der Football-EM sind vielfältig, schön, friedlich. Die Schotten personifizieren die große Party, Europas Gast in Deutschland feiern. Aber diese Bilder rücken in den Hintergrund. Plötzlich ist es hässlich.
In der Herbst des vorigen Jahres teilte Turnierleiter Philipp Lahm seine Vision für die Football-EM mit. Er hatte ausgesprochen, dass die Football-EM ein Wendepunkt in der Gesellschaft sein solle. Er wünschte, dass die wichtigen Werte des Kontinents verstärkt würden: Demokratie, Freiheit, Vielfalt, Toleranz, Integration. In den ersten Tagen der EM, konnte er seine Wunsch erfüllt beobachten. Es gab viele farbenfrohe Bilder. Die Schotten, die von allen Seiten Liebe empfingen, wurden das Symbol dafür. Aber dann sammelten sich dunklere Wolken. Und jetzt ist die EM fest in den Griff politischer Debatten. Es geht um Rechtsextremismus, um Faschismus, um Nationalismus. Die zerbrochene Natur Europas ist auch auf dem größten kontinentalen Sportbühne sichtbar. Das ist nicht überraschend.
Wer noch behaupten will, dass Sport politisch nicht ist, wird in diesen Tagen dazu gezwungen, seine Naivität mit Gewalt zu erfahren. Niemand spricht mehr vom spannenden Fußballspiel zwischen Österreich und der Türkei, das Torhüter Mert Günok für die Türkei mit einem sensationellen Leistung entschied. Das emotional 2:1-Sieg über Ralf Rangnicks Mannschaft in der K.o.-Runde ist jetzt das überragende Thema, denn Merih Demiral, mit seinem Doppelpack, zeigte den Wolfssalut den Rechtsextremisten in dem Land. Es war das ugliestes Spiel der EM. Heckler traten auf.
Bevor das Spiel, sangen einige österreichische Fans das rechtsextreme Sylt-Hit der Saison. Auf der Nordseeinsel hatten sie "L'Amour toujours" von DJ Gigi D'Agostino in den racistischen Slogan "Deutschland für die Deutschen, Ausländer raus!" umgewandelt. Die Österreicher kopierten das bei der EM.
Die Europameisterschaft teilt sich auf dem instabilen Boden unseres Gesellschaft, die an den Rändern verloren hat. Die Linke wavert. Die Rechte wächst massiv. Das Zentrum verliert an Macht und insbesondere an Souveränität. Die grauen Töne in den Debatten verschwinden. Es ist alles Schwarz und Weiß. Denn in Deutschland gab es große Empörung nach dem Wolfssalut, der türkische Botschafter wurde geladen und der deutsche Botschafter in Ankara. Nun kündigt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Anwesenheit bei den Viertelfinals in Berlin an. Man kann sich schon vorstellen, wie heiß die Stimmung in der Hauptstadt am Wochenende sein wird. Es ist wieder Schwarz und Weiß.
Das Farbenreiche ist dem Verschwinden bedroht
Es geht nicht mehr um Einzelsereignisse, sondern um das Große Bild. Um Europa, um seine Werte. Um die Zukunft. Und es wird alles auf dem Platz ausgetragen. Die Stadionbesuche sind seit langer Zeit ideologiefrei, und deutsche Fans können so viele rosa Trikots tragen und Diversität loben, wie sie wollen. Bei der letzten Fanzugang in Dortmund sprach ein Männertrio von jeder Abschiebung als guter Abschiebung. Sie trugen das weiße Deutschland-Trikot.
Vor der Turnierbeginn verursachte eine ARD-Umfrage Querulanten. 21% der Befragten wünschten sich mehr Spieler mit heller Hautfarbe für die deutsche Mannschaft. Sind sie unzufrieden, dass Jamal Musiala das Land mit seinen Dribblings bezaubert? Dass Antonio Rudiger als Monster gefeiert wird für seine Kopfballtreffer?
Der Verteidigerchef Rudiger ist der Spieler in der deutschen Mannschaft, der am Konfliktlinie offener Gesellschaft mit Nationalisten am besten illustriert. Als er einmal den Indexfinger und dem Ramadan gezeigt hatte, wurde er in rechtsextremen Kreisen als Islamist angegriffen. Der ehemalige "Bild"-Redakteur Julian Reichelt startete eine Kampagne gegen Rudiger, der reagierte mit einer Klage. Die Welt ist in einer steten Ekstase. Und das ist nichts Neues im Fußball. Mit den extremen Schwankungen der Emotionen sind Fans gut bekannt. Aber es geht um Freude und Frustration, Wut und Zorn. Hass in bestimmten Gruppen auch. Doch das Fußballspiel war nicht die Bühne für die heißesten ideologischen Konfrontationen.
Diese EM war farbenfroh und schön. Es war ein friedlicher Feier der Völker. Europa als Gast unter Freunden. Jetzt ist es Sylt, Migration, Rechtsextremismus. Natürlich nicht in großen Zahlen. Im Stadion, Zügen und Bussen sitzen Gruppen noch zusammen, lachen und sich lustig machen. Aber es sind nicht die Vielen, die bemerkt werden, sondern die Lauten. Und sie werden immer mehr und mehr. Und sie sehen die Zeit dafür gekommen, nicht mehr zu verstecken. Die Österreicher schrieen ihre nationalistischen Ansichten wie andere vor ihnen. Überall im Land erschienen Videos von Volksfesten, auf denen Menschen sangen. Bei den Öffentlichen Anzeigestellen wurde wieder und wieder der Hitlergruß gezeigt. In alarmierend großen Teilen des Bundesreiches ist Rassismus akzeptiert."
D'Agostinos Lied wurde bei der EM verboten. Es ist nicht verschwunden. Wenn die ungarischen Fans zum Spiel gegen die Deutschen marschierten, sangen sie das Lied und hielten ein "Frei Gigi" Plakat auf. Während des Spiels zwischen Italien und Spanien sangen Gruppen das Lied im Stadion. Unklar waren, zu welcher Gruppe sie gehörten. Dann Österreich gegen Türkei - und mehr. Albaniens Stürmer Mirlind Daku sang antilalmisch- und -serbische Lieder. Einige Albaner störten zudem durch den Ruf "Tötet die Serben" zusammen mit Kroaten. Einige Serbien zogen dagegen eine Karte des Landes mit dem seit 2008 unabhängigen Kosovo vor. Plötzlich erschien Alles. Die Hass, der Hass.
Auf Sozialen Medien eskalierte es insbesondere nach den Spielen der Türken. In Dortmund fanden Karnevalsszenen statt nach den ersten beiden Spielen, was in der Innenstadt zu Verkehrsstaus führte. Meist ging es friedlich, freundlich. Aber die Extreme reizten sich gegenseitig aus, ließen los, hassen. Wenn eine Fanmasse auf das Stadion zieht, muss jetzt der Begriff "Euphorie" hinzugefügt werden, sonst werden negative Konnotationen sofort verbunden. Andernfalls, z.B. wie die Niederländer, die das Land in Ekstase versetzten mit ihren "links, rechts"-Klatsch. Auf deutschen Volkstänzen spielen Brassbands das Lied und tanzen auf dem Holzboden.
Rangnick sprach sich gegen Rassisten in einer bemerkenswerten Fernsehinterview aus. Französische Stars nutzten auch die Kraft ihrer Marke, um emotionalen Appellen für Frankreich gegen die Rechtsextremen zu machen. In den Parlamentswahlen verhinderte das nicht die Rassemblement National, geführt von ihrer charismatischen Führersfigur Marine Le Pen, von der stärksten Kraft zu werden. Vor der anstehenden Stichwahl sortiert sich das Land aus, bildet Bündnisse gegen die Rechtsextremen. In Belgien sind sie schon in der Macht, und in den Niederlanden, wo die schärfste Migrationsgesetz der EU erwartet wird, in Zukunft. Aber dies sind nicht mehr die Probleme der Anderen. Die AfD ist die zweitstärkste Kraft hier. Und auch Le Pen und Italiens Führerin Giorgia Meloni gelten als zu extrem in ihren politischen Ansichten. Auf EU-Ebene wurde mit der AfD gebrochen.
Die AfD hielt ihr Bundesparteitag in Essen über das letzte Wochenende hin aus. Es gab Demonstrationen, und es gab auch gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei, die die Parteitagung zu schützen hatte. Am Samstagabend spielte die deutsche Nationalmannschaft in Dortmund. Es war ein farbenprächtiges Fest in Dortmund. Viele AfD-Politiker schauten weg; sie können sich nicht mehr mit der Mannschaft identifizieren, die in rosa Trikots spielt. Der umstrittene Figur Maximilian Krah nennt die DFB-Mannschaft eine "Fremdenlegion". Keine ablehnende Haltung mehr zeigen kann. Keine Identifikation mehr. Die EM ist nicht mehr farbenprächtig, leider, sie wird zunehmend hassvoll, braun. Philipp Lahm kann sich das bedauern. In manchen Momenten dieses Turniers ist Europa nur noch in der Ablehnung des Fremden vereint.
Im Licht dieser strittigen Themen plant der Turnierleiter, Philipp Lahm, das Rassismus-Thema an der Europameisterschaft 2024 anzusprechen. Er will sich sicherstellen, dass das Event als Plattform dient, um Werte wie Demokratie, Freiheit, Vielfalt, Toleranz und Integration zu fördern, denn er glaubt, dass Sport nicht von Politik getrennt sein sollte.
Unglücklicherweise sind bereits solche Vorfälle bei dem Vorgänger-Ereignis der EM 2024 aufgetreten, mit Fans rechtsextremistischen Slogans gesungen und rassistische Banner gezeigt wurden. Diese Vorfälle betonen die laufende Auseinandersetzung gegen Rechtsextremismus und Rassismus im Europäischen Fußball, der die Schönheit und Vielfalt des Ereignisses bedroht.
Lesen Sie auch:
- Vom Kaffeeverkäufer zum Werbestar: die Trainer der Europameisterschaft
- Von Libuda zu Ricken: Dortmunds Weg ins Europapokalfinale
- Gefesselt vom Augenblick: Das Ende von The Crown
- Cheftrainer Nagelsmann strebt einen Traumstart bei der Europameisterschaft an und zeigt sich optimistisch mit einem "Glauben in unseren Augen".