Politische Initiative - Die Einsamkeit nimmt in Deutschland zu – warum sie gefährlich für Demokratie und Gesundheit ist
Mehr Forschung, Demonstrationsprojekte in Städten, breite gesellschaftliche Koalitionen zu Missständen – kommt Ihnen das bekannt vor? Es klingt wie ein Allheilmittel für die Bundesregierung, um drängende Probleme im Gesundheits- und Sozialwesen zu lösen. Manchmal geht es um die ambulante Versorgung älterer Menschen, manchmal um eine bessere Vernetzung zwischen Hausärzten und Krankenhäusern. Heute sprechen wir über eines der drängendsten Probleme unserer Zeit: die rasant zunehmende Einsamkeit in unserer Gesellschaft.
Das Kabinett hat gerade eine „Strategie zur Bekämpfung der Einsamkeit“ verabschiedet, die mehr als 100 Maßnahmen umfasst. Nicht alle guten Ideen sind da: ein neuer Lehrstuhl für Einsamkeitsforschung, die Gründung einer nationalen „Koalition zur Bekämpfung der Einsamkeit“ aus Unternehmen, Gewerkschaften, Verbänden, Initiativen, Stiftungen, Vereinen oder religiösen Gruppen und Demonstrationen gegen die Einsamkeit rund um die Uhr Weltprojekt. Altersgruppe 28 bis 59 Jahre.
Einsamkeit ist sehr gefährlich für Gesundheit und Demokratie
All dies ist dringend notwendig, denn Einsamkeit ist äußerst gefährlich, nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für die Demokratie. Langfristig gesehen entwickeln Menschen mit extrem schwachen sozialen Netzwerken häufiger Depressionen und Diabetes, erleiden häufiger Schlaganfälle und Herzerkrankungen und sterben Jahre früher. Mit anderen Worten: Eine wirksame Bekämpfung der Einsamkeit könnte mittelfristig dazu beitragen, Gesundheitsausgaben in Milliardenhöhe einzusparen. Doch damit nicht genug: Chronische Einsamkeit bedroht die Stabilität der liberalen Zivilgesellschaft.
Die Journalistin und Theoretikerin Hannah Arendt hat dieses Argument in ihrem Standardwerk „The Elements and Origins of Total Domination“ entwickelt. Sie glaubt, dass die Ausbreitung der tief verwurzelten Einsamkeit ein wichtiger Wegbereiter für die nationalsozialistische Bewegung war. Fallstudien von Tätern von Schulmassakern und Terroranschlägen zeigen, dass Einsamkeit oft eine erhebliche Rolle spielt. Eine aktuelle Jugendbefragung der Bochumer Einsamkeitsforscherin Maike Luhmann ergab, dass einsame Menschen eher das Vertrauen in die Demokratie verlieren und an Verschwörungen glauben als diejenigen, die in die Gesellschaft integriert sind.
Und es sind diese jungen Menschen, die in den Jahren der Epidemie hart getroffen wurden. Ihre sozialen Netzwerke brachen während des Lockdowns zusammen, viele Menschen hockten vor ihren Heimcomputern, was einen amerikanischen Psychologen dazu veranlasste, den Begriff „Höhlensyndrom“ zu prägen. Klar ist, dass sich viele Menschen auch nach der Pandemie nicht von der staatlich verordneten Entzugsphase erholt haben: Laut einer aktuellen Umfrage fühlte sich fast jeder siebte Teenager und Jugendliche in NRW „sehr einsam“.
Viele Initiativen, aber keine dauerhafte Finanzierung
Das Strategiedokument des Bundesfamilienministeriums ist daher sehr zu begrüßen. Gegen die vorgeschlagene Maßnahme würde niemand Einwände erheben, doch sie hat einen Haken: Mit verbindlichen Kostenzusagen hat die Entscheidung nichts zu tun. Sehr billig. Deshalb besteht die Gefahr, dass dieser Schritt nicht zustande kommt. Und das, obwohl Deutschland grundsätzlich besser ist als viele andere europäische Länder. Glücklicherweise gibt es schon seit einiger Zeit Forschungen zum Thema Einsamkeit. Es gibt mehr Vereine, mehr Chöre, größere Wohltätigkeitsorganisationen, mehr Freiwillige und einen gut entwickelten dritten Sektor der Zivilgesellschaft.
An der Frankfurt School of Social Work and Social Education wird das „Loneliness Ability Network“ gegründet. Auf der Website finden Sie unter „Angebote“ verschiedene Initiativen gegen Einsamkeit – von der ehrenamtlichen bundesweiten Telefonhotline „Silbernetz“ für Senioren über das bundesweite Nachbarschaftsnetzwerk Nebenan.de bis hin zum bundesweiten Nachbarschaftsnetzwerk „Silbernetz“ für jüngere Patienten Anwendungen wie „helpcity“, bei denen Menschen mit ähnlichen Lebenssituationen anonym Informationen miteinander austauschen können.
Daher gibt es ein wirklich reichhaltiges Angebot mit unzähligen Beispielprojekten. Sie laufen einfach ständig Gefahr, dass ihnen das Geld ausgeht. Letztlich wird eine langfristige Finanzierung bestehender Initiativen und Vereine erforderlich sein und nicht weiterer Demonstrationsprojekte.
Großbritannien als Vorbild: Das soziale Rezept der Ärzte
Der Kampf gegen die Einsamkeit kostet Geld. Eine Menge Geld. Dies war eine schmerzliche Erkenntnis in Großbritannien, dessen Wohlfahrtsstaat während der Thatcher-Jahre zusammenbrach. Die britische Gesellschaft leidet weiterhin unter zunehmender sozialer Ungleichheit und zunehmender Armut, beides Faktoren, die zu einem stärkeren Gefühl der Einsamkeit führen. Der Einfluss des Staates auf den Wohnungsbau, die kommunale Infrastruktur und den Gemeindeausbau nahm ab, ebenso wie die Möglichkeiten zur gegenseitigen sozialen Unterstützung und zum Kontakt. Das nationale Gesundheitssystem, der National Health Service, wurde gekürzt.
Doch die Briten schufen aus der Not eine Tugend und erfanden ein „Sozialrezept“, das heute als Vorbild für Deutschland dient. Im Mittelpunkt steht der Hausarzt, der oft der letzte regelmäßige Ansprechpartner eines einsamen Menschen ist. Wenn Sie vermuten, dass das zugrunde liegende Problem des Patienten, der vor Ihnen sitzt, in Wirklichkeit nicht Krankheit, sondern Isolation ist, können Sie auf Ihrem Computer ein Formular öffnen, dessen Ausfüllen eine Minute dauert. Sie kreuzen „Einsamkeit“ und möglicherweise sekundäre Faktoren wie „Hohe Verschuldung“ oder „Drogenmissbrauch“ an und klicken dann auf „Senden“. Im Auftrag der Stadt übernimmt dann ein sogenannter „Linkarbeiter“. Nach ausführlicher Beratung empfiehlt er Isolationsteilnehmern Clubs, Tanz- oder Malkurse und vermittelt bei Bedarf Termine für eine Psychotherapie. Aber oft bekommen Menschen Hilfe von jemandem, der sie an die Hand nimmt und sie Schritt für Schritt zurück in die Gesellschaft führt.
Selbstverständlich ist auch für Deutschland eine gesellschaftliche Verschreibung wünschenswert. Um es einzuführen, war jedoch ein erheblicher Eingriff in eine der komplexesten gesetzlichen Regelungen unseres Landes erforderlich: die Sozialordnung. Denn Einsamkeit hat nicht die Qualität einer Krankheit, sie hat keine Abrechnungsnummer. Hier ist die Beteiligung eines kompetenten Teams von Rechtswissenschaftlern erforderlich, nicht eines Psychologen oder Einzelforschers.
Der Kampf gegen die Einsamkeit wird durch die Schuldenbremse verloren gehen
Die Dringlichkeit, deutsche Ärzte in den Kampf gegen die Einsamkeit einzubinden, ist längst erkannt; an der Charité wurde kürzlich ein bundesweites „Soziales Verschreibungsnetzwerk“ gegründet. Wir sind noch auf der Suche nach passenden deutschen Namen für Schlüsselbegriffe wie „Linkarbeiter“, sagt Initiator und Hausarzt Wolfram Herrmann.
Im Berliner Bezirk Lichtenberg möchte man nicht so lange warten. Martyna Voß, Gründerin und Projektleiterin des Vereins Gesundheit e.V., hat dort bereits eine verschreibungspflichtige Sozialberatung eingeführt, viele Ärzte schicken einsame Menschen zu ihr und ihren Mitarbeitern. Zwei ortsansässige Hausärzte bieten sogar einen separaten Sozialberatungsraum in einer Gemeinschaftspraxis an. Sie haben es erraten: Woran es in der Vergangenheit chronisch mangelte, war die Finanzierung. Wegen fehlender Mittel drohte dem Verein oft der Untergang, weil das Konzept nicht im Sozialrecht verankert war.
Wir hoffen immer noch, dass irgendeine Bundesregierung irgendwann erkennt, dass gute Worte nicht ausreichen, wenn hinterher kein Geld reinfließt. Die Bekämpfung der Einsamkeit erfordert mehr als nur neue Modellierungsprogramme, einige Forschungsarbeiten und mehr Behandlungsmöglichkeiten, die aufgrund des Mangels an Psychotherapeuten möglicherweise nicht existieren. Es ist dringend erforderlich, die Armut zu beseitigen und in Sozialwohnungen, Schulen, Bildung und Freiwilligenaktivitäten zu investieren, um dieses drängende Problem entschieden anzugehen.
Leider bestehen berechtigte Zweifel an der Fähigkeit der aktuellen, von den Liberaldemokraten getriebenen Bundesregierung, die Schuldenbremse im Auge zu behalten, dazu in der Lage zu sein.
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Quelle: www.stern.de