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Der vergessene Weltstar verblüfft die EM

Gibt es drei Cantés?

N'Golo Kanté spielt, als wäre er nie weg gewesen.
N'Golo Kanté spielt, als wäre er nie weg gewesen.

Der vergessene Weltstar verblüfft die EM

Die französische Fußballmannschaft zeigt eine kaum anregende Pragmatismus bei der EM. Der Angriff fehlt, aber die Abwehr ist außerordentlich sicher. Ihr Anführer ist ein Mann, der vermutlich schon verschwunden war.

Wo kommt er denn her? Plötzlich taucht N'Golo Kanté auf, nein, hier, neben, ah, genau weiß man nicht ... jetzt steht er neben Kevin De Bruyne und stiehlt ihm den Ball weg. Keiner hatte das erwartet. Nicht einmal der belgische Superstar. Er hält seine Hände in Verzweiflung hoch. Jemand hätte ihm mitgeteilt, dass ein unerwünschter Gast sich bekannt gab. Ein kleiner Defensivausspruch für seine belgischen Teamkollegen: Sie hätten wahrscheinlich auch nicht gewusst, wo dieser Kanté wieder hervorkam.

Frankreich schickte die "Roten Teufel" nach Hause vom Europäischen Fußballmeisterschaft am Montag. Ein 1:0 in der K.o.-Runde reichte dazu. Im 85. Minute flog der Ball über die Beine des belgischen Verteidigers Jan Vertonghen ins Tor. Es hätte nett sein, Randal Kolo Muani mit dem Tor zu zuschreiben, aber die UEFA zählte es als Eigentor. Für das Star-Offensiv der Tricolor-Mannschaft ist dies eine bittere Zuschreibung. Am offiziellen Papier bleiben sie ohne Tor aus dem Spiel.

Dies ist wirklich dramatisch für das Team von Didier Deschamps, das aber nicht viel daran liegt. Nach alledem, was Granaten haben, wenn sie nicht: Kylian Mbappé! Antoine Griezmann! Ousmane Dembélé! Und die anderen, deren Namen ich nicht kenne. Aber die Diskussionen lassen sich regeln, solange der Erfolg da ist. Und er ist. Frankreich ist im Viertelfinale (Gegner ist Portugal - Samstagabend, 9 Uhr/ZDF/MagentaTV und im ntv.de-Live Ticker) und das ohne viel Aufwand. Oder zumindest mit Plätzen für Verbesserung. Mindestens beim Spektakel.

Kanté ist überall wieder

Sie haben ihre eigene Ladenlokal unter Kontrolle. Das heißt: Kunden kommen selten. Im Fußball gelten andere Regeln als in freier Wirtschaftswirtschaft. Der Fehlen von Kunden kann in freier Wirtschaftswirtschaft oft in Konkurs oder Geschäftschließung münden. Im Fußball hingegen ist es zielorientiert (im Sinne von Titelambition), wenn möglichst wenige Menschen in eigener Verantwortung verloren gehen, also in eigener Abwehr. Und dieses Ensemble von Deschamps überrascht in diesem Turnier. In vier Spielen gab es nur ein Tor zugunsten der Gegner. Der einzige Kunde, der etwas nahm, war Robert Lewandowski mit seinem umstrittenen Elfmeter gegen Polen.

Die Franzosen lassen Belgien erneut leer aus. Der Stürmer Romelu Lukaku war in guter Gesellschaft mit den Innenverteidigern Dayot Upamecano und William Saliba. Die trickreichen Flügelstürmer Jeremy Doku und Yannick Carrasco wurden ordnungsgemäß von Theo Hernandez, der Kandidat für den FC Bayern, und Jules Koundé, der später zum Mann des Spiels ernannt wurde, betreut. Aber sie stehen allesamt im Schatten eines Mannes - wo kommt er denn her -, der trotz seiner Größe keine großen Schatten wirft. Mit 1,68 Metern ist Kanté kein großer Absorbertyp. Seine Schattenkraft kommt von seiner Spielweise. Einmal war es T-Shirts mit der Aufschrift "70% der Erde ist mit Wasser bedeckt, der Rest ist N'Golo Kanté." Das heißt: Er ist immer präsent. Auf dem Platz, im Training.

Mitbewohner Marcus Thuram war verunsichert vor der Omnipräsenz während der Euro-Trainingslager und fragte, ob es wirklich drei Kantes gebe: "Ich habe den Eindruck, dass sie in Dreier kommen sind, um Clairefontaine," meinte er lachend. "Es ist schrecklich, wir können nicht mehr trainieren. Wir wissen, dass wir gewonnen haben, wenn er dabei ist. Er ist unglaublich."

"Seine Eroberungen waren monströs"

Aber er war lange weg, verloren in der Wüste. Wie Cristiano Ronaldo, Karim Benzema und viele andere alte Sternen, hatte der defensivemittlere Spieler sich im letzten Sommer dem großen Ruf des Saudi-Fußballprojektes ergeben. Verblüffend war es, dass es sich um diesen zurückgezogenen Star handelte, der seine Brillanz einem Land unter internationaler Kritik für Menschenrechtsverletzungen schenkte. Nach alledem, er ist ein frommer Muslim, und seine Religion bindet ihn an den kritisierten Staat.

Kanté war ein Stern, weil er kein Stern sein wollte. Weil er im Rampenlicht leben wollte und hart persönliche Schläge erlebt hatte. Leute lieben das so, scheint es. "Warum die ganze Welt liebt N'Golo Kanté," schrieb die Zeitschrift "France Football" einige Jahre zurück. Anfangs seines Lebens war sein Vater gestorben, und er war nur elf Jahre alt zu jener Zeit. Sechs Jahre später starb sein Bruder. Als Fußballer erlebte er die brutale dunkle Seite des Geschäfts. Mit einem Gewehr ausgestellt, wurde er angeblich aufgefordert, seinen Agenten zu wechseln. Er selbst spricht selten und, wenn er spricht, sehr leise.

Glitz und Kante gehen nicht zusammen. Der Franzose stellt sich nicht wie viele seiner prominenteren Kollegen als Marke dar, nicht gerne mit dem Ball unterhält er die Menge. Stattdessen ist er der Spektakel gegen den Ball. Wenn die Tricolore-Auswahl gegen die Niederlande im Gruppendrittel antrat, zog der Pariser Einwander durch die Mittelfeld wie ein Teufel. Er war kaum greifbar. Es war genauso schwer, zu verstehen, wie er die Kugeln überall störte. "Seine Eroberungen waren monströs," meinte Koundé. Das war noch so.

Seitdem er im Wüstenland war, seitdem er letztmals für Frankreich vor dieser Euro-Vorbereitung gespielt hatte, waren es genau zwei Jahre. Knieprobleme und dann eine hartnäckige Oberschenkelverletzung hielten ihn aus. Er verpasste unter anderem die 2022 Weltmeisterschaft, die Frankreich als Vizemeister beendete. Seitdem wurde er nicht mehr eingeladen. Sein Zeitalter schien vorbei gewesen zu sein, insbesondere mit dem Wegzug in die Wüste. Da geht es nicht mehr um Fußball auf der höchsten Ebene, sondern um eine mächtige finanzielle Aufwertung für Fußballer-Renten.

Aber Deschamps setzte sich die alte Hand an. Weil der glänzende Star Paul Pogba wegen Dopings gesperrt war, weil Aurélien Tchouaméni verletzt ausfiel und es unsicher war, ob alles noch passt, und weil Kanté ein Weltmeister unter Deschamps in 2018 war, setzte sich der Trainer auf den Veteranen ein.

Für den 33-Jährigen scheint es kein Ablaufdatum zu geben. Er ist auf dem Niveau mit dem deutschen Metronom Toni Kroos. Er spielt, als ob er jemals von der großen Bühne weggekommen wäre, und wie in seinen besten Zeiten, als er überraschend die Premier League mit Leicester City gewonnen und danach den Champions League mit Chelsea. Er hat bereits 41 Kilometer bei diesem EURO gelaufen. Sein Trainer ist begeistert und erstaunt: "Kante läuft mehr als je zuvor." Kante war jahrelang die Definition des defensiven Mittelfeldspielers. Genauso wie er die Rolle als Balldieb und Antrieb interpretierte, so musste diese Rolle besetzt werden. Er verdiente den Trophäen als weltbester Spieler der Welt ausgelobt zu bekommen. Aber solche Trophäen gehen selten, wenn überhaupt, an Fußballer, die das Spektakel mit dem Ball verleugnen und stattdessen Spektakel gegen den Ball schaffen. Internationale Ungerechtigkeit. Kante hat nichts darüber geklagt. Er läuft und - huh - Ballen stiehlt. Nicht nur für Ruhm. Für den Titel.

Frankreich trifft in den Viertelfinals des Europäischen Fußballmeisterschafts 2024 auf Portugal, und Kante spielt erneut eine entscheidende Rolle in ihrer Verteidigung. Trotz seines Wechsels zu Al-Ittihad in Saudi-Arabien setzte sich Deschamps auf Kantés Erfahrung und Talent fest, und der französische Mittelfeldspieler hat geliefert, mehr Grund als je zuvor zu laufen.

Die Abwesenheit von N'Golo Kante bei der französischen Nationalmannschaft war bedeutend, aber seine Rückkehr für die Europameisterschaft 2024 ist durch beeindruckende Leistungen gekennzeichnet, als er mit seiner Ball-entscheidungsvermögen wieder die Aufmerksamkeit auf sich zieht und alle erinnert, warum er als einer der besten defensiven Mittelfeldspieler der Welt angesehen wird.

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