Casper entkommt seiner Trauer
„Nur Liebe, für immer“. Casper veröffentlicht das ungewöhnlichste Album seiner Karriere. Nach mehreren Platten mit einheitlicher Klang- und Bildsprache ist die neueste eher eine musikalische Fingerübung. Das ist gut.
Schon das Erscheinungsdatum ist überraschend. Zwischen Caspers Alben lagen in der Vergangenheit immer vier Jahre, wobei „only love, Always“ auftauchte. Der Erbe des „Alles ist gut und nichts schadet“ kommt ungewöhnlich früh. Während er im Sommer 2023 noch mit besagter Platte auf Deutschlands größten Festivalbühnen unterwegs ist, soll schon bald die erste neue Single „Emma“ erscheinen. Es war der Vorbote eines Projekts, bei dem Casper die prägendste Konstante seiner Karriere hinter sich lassen konnte: den Perfektionismus.
Bevor er 2011 sein letztes bahnbrechendes Album, XOXO, veröffentlichte, hatte er bereits mehr als die Hälfte eines anderen Albums fertiggestellt. Doch Casper lehnte das Projekt ab, unter anderem weil es zu sehr nach dem amerikanischen Rapper Drake klang. Erst das Lied „230409“ erblickte später das Licht der Welt. Während der Entstehung von „XOXO“ erarbeiteten er und sein Team im Studio die Regeln des Songwritings. Für den Nachfolger „Hinterland“ dachte er auch über Live-Auftritte nach. Alles sollte groß und kraftvoll klingen. In einem Interview mit thegap.at nach Fertigstellung des Albums erklärte er: „Ich quäle mich immer damit, die letzten Songs zu machen, weil sie mir wirklich nicht gefallen.“
Neuer Anfang? gar nicht
Während Caspers eigene Ansprüche immer im Gedächtnis geblieben sind, variiert der Sound von Album zu Album. Fast wie in einem Vergnügungspark eröffnet sich alle paar Jahre eine neue Themenwelt. „Everything Is Beautiful and Nothing Hurts“ erscheint 2022 und scheint die Zusammenfassung seiner bisherigen Diskografie zu sein. Es ist „Nur Liebe, für immer“. Also ein Neuanfang?
NEIN. „Only Love, Forever.“ ist eine musikalische Fingerübung, die gerade deshalb so viel Spaß macht. Der zehnte Song des Albums heißt „take a Breath“, aber so funktioniert die ganze Platte. Bei jedem großen Konzept hält Casper einen Moment inne und genießt das Privileg, im Moment tun und lassen zu können, was er will. Passend zu den Pausen wird es nostalgisch bei Titeln wie „Still Nervous“ oder „Loving in a City That Doesn’t Exist“.
Andererseits trifft der Sound des Albums den Zeitgeist, insbesondere „Blink“ und „Wrong Time, Wrong Place“. Das ist kein Zufall, denn Nilly, die das Album produzierte, schuf auch das Klangteppich der Berliner New Wave rund um Ski Aggu und Sampagne. Der einzige auf der Platte vertretene Künstler ist Cro im Song „Sommer“. Beide besingen die Sehnsucht nach dem Gleichen, mal nach der Jahreszeit, mal einfach nur nach einem Gefühl der Leichtigkeit. Obwohl Casper in dem Song auch düstere Gedanken anspricht („There’s a Thunderstorm in My Head“), hat der Beat ein beschwingtes, sommerliches Hit-Feeling.
Zwischen M83 und Paula Hartmann
Allerdings wird die musikalische Untermalung nur einmal wirklich abgeschwächt. „What Came From There (Wide Awake)“ klingt wie etwas aus einem Stranger Things-Poster. Während endlosem Synthesizer-Geplapper spricht Casper über Panikattacken und (erfolglose) Arztbesuche. Das experimentellste Stück des Albums lehnt sich an den Stil der französischen Dream-Pop-Band M83 an, wobei das Schlagzeug im Refrain fast vollständig weggelassen wurde und Caspers Gesang noch nie so viel Platz hatte.
In den zehn Liedern (plus Intro und Outro) gibt es viele Gesangsparts. Auch speziell für die bereits erwähnte „Emma“. Obwohl „Only Love, Forever“. Als Caspers vielseitigstes Werk ist „Emma“ nicht ganz die richtige Wahl.
Das liegt keineswegs am Gesang, vielmehr ist der Song thematisch fehlerhaft. Das Lied über die Drogenabhängigkeit eines jungen Mädchens bleibt nach drei Minuten sehr vage und ungefähr. Das beeindruckende Ende verwirrt das Publikum, die Figur des etwas jähzornigen Mädchens scheint nie Gestalt anzunehmen. Die Atmosphäre erinnert an ein Lied von Paula Hartman, aber sie erzählt die Geschichte einer Drogennacht auf eine zugänglichere Art und Weise.
Wie ein Kind im Spielzeugladen
Im Podcast Oh Shoes! sagte Casper über sein neuestes Werk, dass es „völlig zufällig passiert“ sei und „vielleicht nennen sie es ein Mixtape.“ Das hört man auf dem Album bestens. Wie ein Kind im Spielzeugladen tanzt Casper zu „Only Love, Forever“. Gehen Sie mit strahlenden Augen von einer Idee zur nächsten.
Dies belegen Gimmicks wie der dreizeilige Verweis auf drei von Drakes Alben in „Sommer“ und die äußerst anspruchsvolle Rap-Einleitung zum Album „Real from Below / Zoé Freestyle“. Alles verläuft mit der gleichen Leichtigkeit, die Casper zuletzt auf seinem gemeinsamen Album mit Marteria „1982“ ausstrahlte. „Nur Liebe, für immer.“ Der Freizeitpark Casper ist keine neue Themenwelt, sondern eine lehrreiche und unterhaltsame Ausstellung, zu der Sie immer wieder zurückkehren können.
Quelle: www.ntv.de