Warum Israel bald seine Strategie ändern muss
Israel hat außerdem zwei Tage lang groß angelegte Angriffe auf den südlichen Gazastreifen durchgeführt und stößt auf Widerstand seitens der Vereinigten Staaten. Netanjahu könnte sich nicht weniger darum kümmern. Aber es fiel ihm schwer, die militärische Gewalt zu reduzieren.
Die sieben Tage der Ruhepause sind vorbei. Seit Samstag hat die Hamas erneut mehrere Raketen auf Israel abgefeuert und der Gazastreifen ist erneut Luft- und Bodenangriffen ausgesetzt. Bilder von zerstörten Gebäuden, unter Trümmern begrabenen Menschen sowie verletzten und in Panik geratenen Menschen kursieren erneut im Internet – nur dieses Mal stammen die Bilder zum Schock vieler aus dem südlichen Gazastreifen.
Der südliche Teil des Gazastreifens, vom Zentrum des Gebiets bis zur ägyptischen Grenze, galt zuvor als sicherer Zufluchtsort für die zwei Millionen Zivilisten im Gazastreifen. Das israelische Militär schickt Menschen mit Kurieren und Flugblättern dorthin, Hunderttausende Palästinenser reisen in großen Flüchtlingszügen dorthin, meist zu Fuß. Nun sterben also auch Unbeteiligte durch israelische Bomben.
Gazastreifen bietet keine wirkliche Sicherheit
Das Militär erklärte, es habe seine Bodenoffensive auf „den gesamten Gazastreifen“ ausgeweitet. Palästinensische Flüchtlinge berichten, dass sie sich nun zum zweiten (und in manchen Fällen zum dritten oder vierten) Mal auf den Weg machen, um Schutz zu suchen, den es letztlich womöglich nirgendwo gibt. Solange die Kämpfe andauern, wird ein nur 40 Kilometer langer, von den Kriegsparteien unterirdisch getunnelter Küstenstreifen nirgends für echte Sicherheit sorgen.
„Dennoch gibt es eine Unterscheidung zwischen Sektoren, in denen das Sicherheitsrisiko relativ hoch oder niedrig sein sollte“, sagte Stephan Stetter, Nahostexperte an der Universität der Bundeswehr in München. Die israelischen Streitkräfte (IDF) verteilen derzeit Flugblätter mit einem QR-Code, der auf eine arabische Website weiterleitet. Dabei ist der gesamte Küstenstreifen optisch in mehr als 620 Zonen unterteilt. Allerdings sind im Gazastreifen nicht immer Mobilfunknetze verfügbar, sodass nicht jeder auf die Website zugreifen kann.
Die israelischen Streitkräfte haben heute 27 Gebiete zur Evakuierung ausgewiesen, alle im Süden rund um die Stadt Khan Yunes, die zunehmend unter Artilleriefeuer gerät. Unter anderem hat Israel ein kleines Küstengebiet rund um die Stadt Mawasi als „humanitäre Zone“ ausgewiesen, aus der Menschen ausreisen sollten. Armeesprecher Jonathan Conricks sagte, die Truppen seien sich „völlig bewusst, dass der Platz und der Zugang begrenzt sind“. Umso wichtiger ist es, dass internationale Hilfsorganisationen beim Aufbau der Infrastruktur in Mawasi helfen.
Auf internationaler Ebene fordern immer mehr Stimmen, dass Israel die Menschen in Gaza wirksamer schützen müsse, als dies bisher der Fall sei. Dazu gehören der französische Präsident Emmanuel Macron und die derzeitige US-Vizepräsidentin Kamala Harris. „Zu viele unschuldige Palästinenser wurden getötet“, sagte sie am Rande der Klimakonferenz in Dubai. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hat gewarnt, dass Kriege in „städtischen Gebieten“ nur durch den Schutz der Zivilbevölkerung gewonnen werden können.
Diese beiden kritischen Stimmen sind für Israel von großer Bedeutung, da die Vereinigten Staaten sein mit Abstand wichtigster internationaler Partner sind. Washington steht unter Zeitdruck, um festzustellen, wie viel Zeit den israelischen Streitkräften noch bleibt, um die militärischen Fähigkeiten der Hamas erheblich zu schwächen und ihre Kommandostruktur massiv zu zerstören, sodass sie nicht mehr aktiv werden kann. Wenn die USA irgendwann „Stopp“ sagen, wird Israel mit ziemlicher Sicherheit seine Verteidigungsschläge beenden müssen.
Wohin sollen Südstaatler fliehen?
Das Weiße Haus hat immer noch kein Stoppsignal gesendet, aber Premierminister Benjamin Netanyahu muss die Kommentare von Harris und Austin sehr ernst nehmen. „Sie werden es Israel in den kommenden Tagen erschweren, im südlichen Teil des Gazastreifens so zu operieren, wie es die Armee im Norden getan hat“, sagte Stetter. „Sollten die Menschen dorthin fliehen?“
Kairo schließt die Aufnahme palästinensischer Flüchtlinge weiterhin ausdrücklich aus. Sturt betrachtete den Schritt auch als „enorme potenzielle Bedrohung für die internationale Lage“. Eine Flüchtlingswelle, die die Grenze von Gaza nach Ägypten überquert, würde von arabischen Staaten sofort als dauerhafte Vertreibung der Palästinenser interpretiert werden. „Im Kontext der palästinensischen Geschichte, insbesondere der ‚Nakba‘ – wie die Palästinenser die Vertreibungen während des Krieges von 1948 nennen – wäre dies sehr gefährlich.“
Wenn zivile Gebäude im südlichen Gazastreifen ebenso stark beschädigt werden wie im Norden, wird der Wiederaufbau noch schwieriger. Sturt betrachtete die internationale Erklärung als „Warnung auf taktischer Ebene“. Eine Woche nach dem Waffenstillstand kann sich Israel mit Zustimmung der USA immer noch gegen Angriffe verteidigen. Arabische Länder wie Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate unterhalten weiterhin diplomatische Beziehungen zu Israel. Auch Katar und Saudi-Arabien pflegen bislang Kontakt. Israel hat also noch Handlungsspielraum.
Aber die Botschaft aus Washington ist klar: Es kann weitergehen, aber es muss operativ und militärisch anders sein als im Norden, also gezielter, systematischer und mit weniger zivilen Opfern. Die humanitäre Lage darf nicht völlig außer Kontrolle geraten.
Dies bringt die Regierung und die Streitkräfte in eine schwierige Lage: Um den Erwartungen wichtiger Partner gerecht zu werden, muss von groß angelegten Bombenangriffen abgewichen und hin zu Bodentruppen und Spezialkommandos gewechselt werden. Während groß angelegte Bombenangriffe ohne schwere Verluste durchgeführt werden können, bedeuten israelische Soldaten, dass sie „zielgerichteter und systematischer“ sind, bei Einsätzen einem größeren Risiko. Sollte die IDF in den kommenden Wochen deutlich höhere Verluste vermelden müssen, könnte das zu einem innenpolitischen Thema werden. Doch je größer die Zerstörung in Gaza und je größer die Zahl der Opfer, desto schwieriger wird es, nach dem Krieg eine politische Lösung zu finden.
Überleben zwischen Gegnern verhindern
Aus israelischer Sicht gibt es einen weiteren Einwand dagegen, dass Israel das Ausmaß seines Gegenangriffs begrenzt, und zwar seine abschreckende Wirkung: Umgeben von zahlreichen Feinden ist Abschreckung Israels lebensrettende Macht. Der Anschlag vom 7. Oktober zeigte, dass das Land fragiler und verletzlicher ist, als man dachte. „Deshalb liegt Israel jetzt sehr daran, seine eigene Abschreckung wieder aufzubauen. Aus Sicht vieler Israelis haben die schweren Schäden dazu beigetragen“, sagte Stetter. „Zumindest wollen wir das strategisch.“
Aus seiner Sicht wirft die Warnung der internationalen Gemeinschaft vor Israel einen zweiten Punkt auf. „Viele Hauptstädte haben Grund zu der Befürchtung, dass Israel insgeheim ganz andere Kriegsziele verfolgt als nur die militärische Zerstörung der Hamas.“ Diese Ziele könnten im Einklang mit dem stehen, was der rechtsradikale Flügel der israelischen Regierung erreichen will. In den vergangenen Wochen erklärten Netanjahus Koalitionspartner, ein Minister habe sich geweigert, humanitäre Hilfe für die „Monster aus Gaza“ zu leisten, während ein anderer die Entvölkerung des Gazastreifens wünschte – es könnten sogar Atombomben eingesetzt werden.
Auch wenn die rechtsradikale Jewish Power-Partei nur ein kleiner Partner in der Regierungskoalition ist, breiten sich die Spannungen international immer noch aus, weil die Likud-Partei des großen Partners Netanyahu sich ihr nicht widersetzt und trotz des Drucks aus den USA der Druck nicht dagegen war es auch. Wieder einmal bringt sie ihre Vision von der Zukunft Gazas nach dem Krieg treffend zum Ausdruck.
Von einer „Pufferzone“ war zuletzt die Rede, ein Wunsch, den laut Stett sowohl der Westen als auch einige arabische Staaten insgeheim verstehen. Aber möchten Sie unbedingt wissen, wie lange dieser Puffer funktionieren soll und wie genau er funktionieren soll? Wann können die derzeit im Süden versammelten Menschen nach Hause zurückkehren? Wer wird aus den Trümmern ein neues Haus bauen? „Alle diese politischen Fragen werden von Israels Partnern gestellt. Die wichtigste davon ist: Welche Rolle wird die Palästinensische Autonomiebehörde nach dem Krieg spielen?“
Hat Israel nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Zukunft für Gaza und das Westjordanland? „Es gibt viele Kräfte in Israel, die bereit sind, Antworten auf diese Fragen zu geben“, sagte Stetter. „Die meisten von ihnen sind derzeit nicht in der Regierung.“
Amerikas Geduld hat Grenzen, auch gegenüber Israel, auch wenn es ohne Wenn und Aber das Recht auf Selbstverteidigung entschieden vertritt. Doch wenn Netanjahu sich die nötige Unterstützung aus Washington für seine Verteidigungsschläge sichern will, muss sich Israels Strategie deutlich ändern – sowohl in Regierungserklärungen als auch auf dem Schlachtfeld.
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Quelle: www.ntv.de