Ukrainische Frauen protestieren gegen den unbefristeten Wehrdienst ihrer Männer
Olexandr ist eigentlich Universitätsdozent. Mehr als eineinhalb Jahre lang stand er fast ununterbrochen an vorderster Front gegen die russische Invasion. Seine Frau sagte, die Soldaten seien erschöpft. Wie Tausende andere in der Ukraine befürwortete sie den vorübergehenden Militärdienst. Unterdessen arbeitet Kiew daran, sein Militär zu stärken.
Kurz nach Kriegsbeginn bildeten sich lange Schlangen vor dem Rekrutierungsbüro, als Antonina Danylewitschs Ehemann im März 2022 in die ukrainische Armee eintrat. Die Menschen rückten in Scharen vor, um ihr Land vor russischen Angreifern zu verteidigen. Heutzutage gebe es keine langen Schlangen mehr, sagte Danylewitsch. Die 43-jährige Personalleiterin gab ihren Segen, als ihr Mann Alexander gegen Zehntausende Menschen kämpfte. Heute fällt es ihr schwer, damit klarzukommen. Alexander hatte seit seiner Einstellung nur 25 Tage Heimaturlaub. Die beiden Kinder wuchsen ohne ihren Vater auf.
Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Es betrifft Menschen – Soldaten, ihre Familien und Freunde. Und sein Tribut wächst. „Wir wollen, dass die Ukraine gewinnt“, sagte Antonina Danilevich in ihrem Haus in der Hauptstadt Kiew. „Aber nicht durch den Einsatz derselben Leute.“ Soldaten müssten ersetzt werden, erklärte sie, und sie müssten sich auch ausruhen. „Aber aus irgendeinem Grund verstehen andere das nicht.“ Auch Frauen in der Familie müssten stärker werden, fügte sie hinzu. „Aber um welchen Preis werden wir stärker?“
Ihr Mann Alexander arbeitet als Dozent an der Universität. Er meldete sich ohne Kampferfahrung. Heute ist er Zugführer der 4. Panzerbrigade. Seine 14-jährige Tochter vermisst ihren Vater schrecklich. In diesem Jahr verfolgte Alexander die Hochzeit seines Sohnes von der Front aus per mobilem Videoanruf in der vom Krieg zerrütteten Stadt Bachmut in der Ostukraine. Im Februar jährt sich der Beginn der russischen Invasion zum zweiten Mal. Wie viele andere musste sich auch Antoninas Familie damit abfinden, dass der Krieg lange dauern würde – viel länger als erhofft. Einige geben inzwischen zu, dass der Sieg nicht garantiert ist.
Proteste gegen unbefristeten Wehrdienst trotz Verbot
Im Herbst unterzeichnete Antonina Danilevich eine Petition an Präsident Wolodymyr Selenskyj, in der sie zum vorübergehenden Militärdienst aufrief. Etwa 25.000 Menschen unterzeichneten und forderten einen klaren Zeitplan für die Entlassung von Soldaten aus dem Militär. Auch im Zentrum von Kiew fanden zwei Demonstrationen statt, an denen 50 bis 100 Menschen teilnahmen. Das zu Beginn des Krieges verhängte Kriegsrecht verbot öffentliche Demonstrationen. Aber es gibt sie. Solche Proteste wären vor einem Jahr undenkbar gewesen, als ukrainische Soldaten russische Truppen aus Kiew zurückdrängten und sogar Teile des Nordostens und Südens zurückeroberten.
Vor einem Jahr erreichte die nationale Moral ihren Höhepunkt. Doch der im Sommer begonnene Konter gelang nun nicht mehr zum Durchbruch. Der Winter hat begonnen. Russland verstärkt Drohnen- und Raketenangriffe auf die Strom- und Wärmeversorgung. Ukrainische und russische Soldaten stehen sich im Stellungskrieg gegenüber. An der Front hat sich wenig geändert. Und immer lauter wird die Frage, ob die dringend benötigte Militärhilfe aus dem Ausland so schnell und umfassend wie bisher geleistet werden kann. Die Ukraine benötigt Waffen im Wert von mehreren Milliarden Dollar von den Vereinigten Staaten und anderen Verbündeten, um ihre Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten. Beispielsweise reicht die Versorgung mit Artilleriegranaten mittlerweile nicht mehr aus und das Ausland ist nicht bereit, Hilfe zu leisten. Nicht nur, weil es in der Ukraine keinen klaren militärischen Erfolg gab, sondern auch, weil die USA 2024 einen neuen Präsidenten wählen werden.
Für die Regierung in Kiew sind diese externen Faktoren mit internen Faktoren verflochten. Es steht vor schwierigen Entscheidungen: Einerseits muss es genügend neue Truppen aufstellen, um gegen die viel größere russische Armee zu kämpfen, und andererseits muss es genügend Arbeitskräfte bereitstellen, um die Wirtschaft am Leben zu halten. Von der Mobilmachung sind nur Männer im Alter von 27 bis 60 Jahren betroffen. Wer zwischen 18 und 26 Jahren alt ist, kann nicht zur Armee eingezogen werden, kann sich aber freiwillig melden. Nach eigenen Angaben der Ukraine sind eine Million Menschen bewaffnet. Männern im Wehrpflichtalter ist es untersagt, ins Ausland zu reisen.
Entwurf in der U-Bahn einreichen
Der Mobilisierungsplan ist ein Staatsgeheimnis, ebenso wie die Zahl der auf dem Schlachtfeld getöteten oder verwundeten Soldaten. Die militärische Führung der Ukraine hofft, zu verhindern, dass ein Zermürbungskrieg ins Stocken gerät, was letztlich Russland zugute kommen würde. Daher konzentriert sich der in diesem Monat vorgestellte Plan auf Folgendes: Stärkung der Fähigkeiten in Bereichen wie Luftwaffe, elektronische Kriegsführung, Drohnen, Artillerieabwehr und Minenräumung.
Gleichzeitig verwies sie auf eingeschränkte Möglichkeiten zur Ausbildung von Soldaten und sah Gesetzeslücken, die eine Mobilisierung verhindern könnten. Daher sollte ein einheitlicher Rekrutierungsplan eingeführt und die Wehrpflichtkategorien erweitert werden. Die Rekrutierung ist ein Problem. Es fand größtenteils hinter verschlossenen Türen statt. Männer wurden auf der Straße, in der U-Bahn oder an Kontrollpunkten angehalten und erhielten einen Notizzettel. Sie werden angewiesen, sich beim Recruitment Center zu melden. In sozialen Medien aufgetauchte Videos zeigten, wie der Mann weggeschleppt und bedroht wurde. Es kam zu einem öffentlichen Aufschrei. Die Menschen sind auch wütend über wiederholte Enthüllungen, dass Wehrpflichtige Bestechungsgelder nutzen, um dem Militärdienst zu entgehen.
Korruption ist in Personalvermittlungszentren offenbar weit verbreitet
In diesem Sommer musste Selenskyj alle Leiter des regionalen Rekrutierungsbüros entlassen. Fast wöchentlich werden Strafverfahren gegen Militärangehörige gemeldet, die Geld für gefälschte Dokumente erhalten, um einer Mobilisierung zu entgehen. Die Bestechungssummen lagen zwischen 500 und 10.000 US-Dollar. Die Regierung arbeitet außerdem an einem Gesetz, das Menschen über 30 Jahren das Studium verbieten soll, um dem Militärdienst zu entgehen. Das Parlament plant außerdem, bis Ende dieses Jahres einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Einstellungs- und Entlassungsverfahren auszuarbeiten, sagte ein Abgeordneter.
Entlang der Theiß, die vom Südwesten der Ukraine nach Rumänien fließt, verhafteten Grenzschutzbeamte, die normalerweise Zigarettenschmuggler jagen, etwa 6.000 Menschen, die vor dem Krieg fliehen wollten. Ein Grenzschutzbeamter meldete, dass mindestens 19 Menschen ertrunken seien. „Sie starben umsonst. Sie starben im Fluss, obwohl sie zu den Kriegsanstrengungen hätten beitragen können.“
Das Vertrauen in die Regierung nimmt ab
All dies hat zu einem Rückgang des öffentlichen Vertrauens in die Regierung geführt. Manche Soziologen spüren einen wachsenden Pessimismus. Das Vertrauen in die Regierung sei von 74 % im Jahr 2022 auf 39 % gesunken, sagte Anton Hrushetskji, Geschäftsführer des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew. Im Parlament sank dieser Wert von 58 % auf 21 %. „Wir hoffen, dass es uns im Herbst besser geht als jetzt.“ Jetzt kommt der Winter.
Antonina Danylewytsch bereitet ihr Zuhause auf die Kälte vor. „Ich bin frustriert. Ich kenne die Herausforderungen des Winters. Wenn es heftigen Beschuss gibt, wenn Strom und Heizung ausfallen, muss ich alleine zurechtkommen.“ Anderen Frauen geht es genauso. Diesen Sommer traf Danylewytsch auf Telegram eine Gruppe Gleichgesinnter, die mittlerweile fast 3.000 Menschen umfasst, die sich für das Recht der Veteranen auf Demobilisierung einsetzen. Die meisten von ihnen sind Ehefrauen, Mütter und Angehörige von Militärangehörigen. „Viele Frauen nehmen Schlaf- und Beruhigungsmittel“, berichtet Danylewytsch. Die Rücktrittswelle breitet sich aus. Es gibt aber auch Bereiche der Unzufriedenheit. Danylewytschs Gruppe demonstrierte erstmals Ende Oktober auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew und forderte eine Einschränkung des Militärdienstes. Dann schrieben sie einen Brief an Selenskyj. Die Polizei griff nicht ein. Eine weitere Kundgebung fand Mitte November statt. Ein Demonstrant hielt ein Schild mit der Aufschrift: „Mein Mann und mein Vater haben den anderen Zeit gegeben, sich vorzubereiten. Zeit, die Ersten auszutauschen!“
Quelle: www.ntv.de