Orbans Erpressung hat Aussicht auf Erfolg
Die Justiz hat ihre Unabhängigkeit verloren und die Korruption hat zugenommen. Infolgedessen fror die Europäische Kommission Milliarden von Dollar an Ungarn ein. Allerdings hat sie nun vorgeschlagen, 900 Millionen Euro an Budapest freizugeben. Orban kann auf mehr Geld hoffen.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán droht der EU mit zwei Vetos. Einerseits hofft er, beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs Mitte Dezember gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu stimmen. Andererseits blockiert er die Freigabe eines 50-Milliarden-Euro-Hilfspakets für Kiew, für das auch der Sicherheitsrat grünes Licht braucht. Dennoch empfahl die Europäische Kommission kürzlich den Mitgliedsstaaten, 900 Millionen Euro eingefrorener Mittel aus Ungarns neuem Corona-Konjunkturprogramm RePowerEU freizugeben. Aber das ist nicht alles.
In den letzten Wochen haben die Europäische Kommission und Budapest intensiv darüber diskutiert, ob Ungarn Zugriff auf insgesamt 13 Milliarden Euro aus dem EU-Kohäsionsfonds erhalten soll. EU-Diplomaten vermuten, dass Orbans Blockadehaltung gegenüber der Ukraine auf Plänen zur Freigabe von von der Europäischen Kommission zurückgehaltenen Geldern beruht.
Die EU hat aufgrund der weit verbreiteten Korruption und Orbans Kampagne zur Verletzung der Rechtsstaatlichkeit Ungarns mehrere Finanzierungsquellen eingefroren. Darin enthalten sind 28 Milliarden Euro an Corona-Hilfen für Budapest und 22 Milliarden Euro aus dem Kohäsionsfonds. Auch die EU-Haushaltsmittel wurden im Dezember letzten Jahres um 6,3 Milliarden gekürzt.
Briefwechsel zwischen der Kommission und der ungarischen Regierung
Die Kommission will den Großteil der Mittel erst freigeben, wenn Ungarn beweist, dass es die Korruption durch Reformen bekämpft und die Rechtsstaatlichkeit wiederherstellt. Das Gleiche gilt nicht für die für RePowerEU geplanten 900 Millionen US-Dollar. Es handelt sich hierbei um eine Vorfinanzierung ohne jegliche Bedingungen. Ein Sprecher der Europäischen Kommission betonte, dass die positive Entscheidung über den ungarischen Plan kein Zugeständnis an Orban sei. Bei der Bewertung des ungarischen Plans wurden Regeln befolgt. Im Gegensatz zu anderen Zahlungen können die Vorschüsse des Programms nicht an Reformen gebunden werden.
Eine klare Voraussetzung für die Freigabe von 13 Milliarden Euro aus dem Kohäsionsfonds ist jedoch, dass Ungarn eine unabhängige Justiz wieder aufbaut. Orban glaubt, sein Land habe alle Forderungen erfüllt. Also beantragte er im Juli die Zahlung. Seitdem gab es einen regen Briefwechsel zwischen der Kommission und Budapest. Die Kommission hat einen Fragebogen nach Ungarn geschickt, in dem sie nach der dortigen Rechtsstaatlichkeit gefragt wird. Ungarn ist dieser Frage möglicherweise noch eine Antwort schuldig. Offiziell steht eine Entscheidung über die Auszahlung der Mittel noch aus.
Es ist möglicherweise kein Zufall, dass Orbán den Zeitpunkt für die Übermittlung seines Antrags an den Ausschuss gewählt hat. Schon im Sommer wusste er, dass es im Herbst wichtige Entscheidungen zur Ukraine geben würde, mit denen er Druck auf die EU ausüben könnte. Offiziell findet er immer wieder neue Rechtfertigungen für seine Lockdown-Haltung.
Orbán verweist auf den Schutz ethnischer Minderheiten in der Ukraine
Erstens behauptete er, dass die ungarische Minderheit in der Region Transkarpatien in der Westukraine unterdrückt werde, und er wisse, dass der Minderheitenschutz eine wichtige Voraussetzung für den EU-Beitritt sei. Er kritisierte auch das 2017 verabschiedete ukrainische Bildungsgesetz. Bis dahin konnten Minderheiten bis zum Abitur in ihrer Sprache zur Schule gehen. Ukrainisch-Sprachkurse sind nun ab der fünften Klasse Pflicht. Die Gesamtbemühungen, Ukrainisch als Landessprache zu stärken, sind Orbán ein Dorn im Auge.
Die Grünen-Abgeordnete Viola Cramon-Taubadr, die die Region bereits mehrfach besucht hat, hält Orbáns Argumente für bloße Augenwischerei. „Die Ukraine verfügt über eines der fortschrittlichsten Gesetze und Vorschriften in der Region, wenn es um Minderheitenfragen geht“, sagte Kramon-Tobadr in einem Interview mit ntv.de. Bis zu 150.000 Ungarn in der Ukraine können in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen Ungarisch lernen. In der Region wird häufig Ungarisch gesprochen, was sie in den Städten der Region aus erster Hand gesehen hat. Dies bestätigten ihr auch internationale und lokale Organisationen. „Natürlich gibt es noch Raum für Verbesserungen“, räumte Cramon-Taubadel ein. Sie machen jedoch deutlich, dass „Orban sich nicht um die ungarische Minderheit in der Ukraine kümmert; er nutzt sie nur als Druckmittel auf die EU.“
Doch Orbán meint nicht nur den Minderheitenschutz. Das schrieb Orban in einem Brief an EU-Ratspräsident Charles Michel, der vor einigen Tagen auch an die Mitgliedsstaaten verteilt wurde. Solange es keinen Konsens über eine Strategie für den Umgang mit der Ukraine gibt, ist es für Staats- und Regierungschefs unmöglich, Entscheidungen über zusätzliche finanzielle Unterstützung, Sicherheitsgarantien oder den Osterweiterungsprozess der EU zu treffen. Orban forderte die Staats- und Regierungschefs der EU auf, sich zu fragen, ob die strategischen Ziele der EU, ein Sieg in der Ukraine und ein politischer Wandel in Russland, noch realistisch sind. Er fragte auch, welche Art von Sicherheitsarchitektur im Europa der Nachkriegszeit vorstellbar sei und wie die Bestrebungen der Ukraine, der EU beizutreten, mit der politischen und wirtschaftlichen Realität in Einklang gebracht werden könnten.
„Die Freigabe von Geldern kann man nur als fatal bezeichnen“
Einige EU-Diplomaten räumten ein, dass Orban in seinem Brief berechtigte und wichtige Themen angesprochen habe. Doch gleichzeitig hat sein jüngstes Treffen mit Kremlchef Wladimir Putin den Verdacht weiter geschürt, dass er unter russischem Einfluss handelt, und Druck auf die EU ausgeübt, eingefrorene Gelder freizugeben. Auch Monica Holmeier, Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses des Europäischen Parlaments, ist überzeugt. „Alle Diskussionen über das Einfrieren ungarischer Gelder müssen unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, dass die Orbán-Regierung die Freigabe der Gelder an die Einigung Ungarns auf EU-Ebene in einem nicht damit zusammenhängenden Thema geknüpft hat. Man kann jetzt sagen, dass dies eine ausgereifte Strategie ist“, sagte die CSU Politiker. Im deutschen Staatsfernsehen forderte sie die Mitgliedstaaten auf, die Grundlagen der EU zu verteidigen, auch gegen Orban. Die Tatsache, dass autoritäre Taktiken toleriert werden, hat eine Kettenreaktion ausgelöst, die die Stärke der EU sowohl nach innen als auch nach außen untergräbt. Holmeier glaubt, dass die Empfehlung der Europäischen Kommission, Ungarn 900 Millionen US-Dollar aus dem RePowerEU-Programm zu zahlen, ein falsches Signal sendet. Sie sagte: „Ohne nachhaltige Verbesserungen der richterlichen Unabhängigkeit Ungarns, der Rechtsstaatsstandards und der Einhaltung grundlegender Binnenmarktregeln kann jede Freigabe von Mitteln nur als fatal bezeichnet werden.“ Unter keinen Umständen sollten weitere Dutzende Dollar aus dem Kohäsionsfonds freigegeben werden , Milliarden Euro, weil Ungarn nichts zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit unternommen hat.
Darüber hinaus schürt Orban in seinem eigenen Land zunehmend eine Anti-Brüssel-Stimmung. Seine Regierung startete eine populistische Umfrage mit dem Ziel, Ungarn vor der EU-Politik zu „schützen“. Die Ergebnisse sind nicht rechtsverbindlich. Orban hofft jedoch, dass die Antworten der befragten Ungarn seine Politik stützen.
„Orban tanzt uns ins Gesicht“
Neben der Einwanderungspolitik geht es in den neuen Konsultationen auch um den Krieg im Nachbarland Ukraine. Die Linie der EU lautete unter anderem: „Brüssel will mehr Waffen und Geld für die Ukraine“ oder „Brüssel will, dass die Ukraine der EU beitritt“. Die Regierung hat außerdem in ganz Ungarn verleumderische Plakate gegen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angebracht. Sie ist mit Alexander Soros abgebildet. Soros ist der Sohn des in Ungarn geborenen Börsenmilliardärs George Soros, den Orbán in Gerüchten über Verschwörungstheorien gerne als Feind des ungarischen Staates darstellt. Auf dem Plakat stand: „Lasst uns nicht im Takt von Brüssel tanzen.“
Angesichts dieser Maßnahmen erwartet die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Catarina Baally, dass die Europäische Kommission eine harte Haltung gegenüber Orban einnehmen wird. „Orbán tanzt uns auf der Nase: Innerhalb Ungarns greift er Ursula von der Leyen und die EU als Ganzes offen an, schließt deutsche Unternehmen aus, heizt Stimmungen gegen die Ukraine und Russland an“, sagte der SPD-Politiker im deutschen Staatsfernsehen Gleichzeitig versuchte er, in Brüssel Gelder freizugeben. Dies sollte nicht belohnt werden. „Gerade angesichts des Rechtsrucks, den wir leider in der EU erlebt haben, sind klare Vorteile wichtiger denn je“, sagte Baally.
Quelle: www.ntv.de