Ohne „Teflon-Mark“ stehen die Niederlande vor einem Neuanfang
Die Veränderungen im traditionellen Parteiensystem in den Niederlanden sind deutlicher als in Deutschland. Eine junge politische Partei könnte die Wahl am Mittwoch gewinnen.
Die Niederlande werden am kommenden Mittwoch in vorgezogenen Neuwahlen ein neues Parlament wählen. Die Wahl wurde notwendig, da die Vier-Parteien-Koalition von Premierminister Mark Rutte am Vorabend der politischen Sommerpause aufgrund der Kontroverse über strengere Asylgesetze zusammenbrach. Seitdem hat eine Regierung aus Ruttes rechtsliberaler Partei VVD – der linksliberalen Demokratischen Partei 66, den Christdemokraten CDA und der Calvinistischen Christlichen Union – ihr Amt angetreten. Diese Koalition wird höchstwahrscheinlich nach der Wahl die Regierung aufgeben müssen. Mark Rutte, nach Viktor Orban der dienstälteste Regierungschef der EU, hat seinen Rückzug aus der niederländischen Politik angekündigt.
Ähnlich wie die Bundesrepublik Deutschland vor zwei Jahren stehen auch die Niederlande vor dem Ende. Zum ersten Mal seit 13 Jahren gibt es einen neuen Regierungschef. Nach aktuellen Umfragen ist völlig unklar, wer die Nachfolge des Premierministers antreten wird, der von politischen Beobachtern wegen seiner Fähigkeit, sich und seine Partei aus der Krise herauszuhalten, manchmal als „Teflon Mark“ bezeichnet wird.
63.000 Stimmen reichen für einen Sitz im Parlament
Anders als in Deutschland sind die Wahlen zur zweiten Kammer des Repräsentantenhauses (entspricht dem Deutschen Bundestag) traditionell das Aushängeschild zahlreiche Parteien und Bewegungen. -Es besteht eine sehr reale Chance, ins Parlament zu kommen. Aufgrund der fehlenden Sperrklausel sind derzeit 20 Parteien in der 150 Sitze umfassenden Parlamentskammer vertreten. In Deutschland sind für einen Sitz im Landtag bzw. Bundestag 5 % der Stimmen erforderlich, während in den Niederlanden für einen Sitz in der zweiten Kammer etwa 0,67 % der Stimmen oder etwa 63.000 Stimmen erforderlich sind. Mindestens 18 der 26 für kommenden Mittwoch geplanten politischen Parteien, Bewegungen und Wahlbündnisse haben berechtigte Hoffnungen, im nächsten Parlament vertreten zu sein.
Politische Spaltungen im Parlament erschweren sowohl die Erlangung einer Mehrheit als auch die Bildung einer unabhängigen Koalition. Die Regierung ist in den letzten Jahrzehnten immer schwieriger geworden, da immer mehr Klein- und Kleinstparteien entstanden sind, die oft sehr spezifische Themen oder soziale Minderheiten vertreten. Obwohl mehrfach die Möglichkeit der Einführung von Hinderungsklauseln angesprochen wurde, ist mit einer baldigen Umsetzung dieser Ideen nicht zu rechnen.
Neue Partei führt in Umfragen
Aktuelle Umfragen sagen einen Dreikampf um den Wahlsieg voraus. Die Partei New Social Contract (NSC), die vor drei Monaten vom ehemaligen CDA-Abgeordneten Pieter Omtzigt gegründet wurde, und die VVD-Partei, die nach Ruttes Ausscheiden aus dem Amt von Justizminister Dilan Yeşilgöz geführt wird, kamen beide auf jeweils rund 18 %. Es folgte die gemeinsame Liste der Sozialdemokraten und Grünen (PvdA/GroenLinks) um den ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Frans Timmermans, die auf rund 16 % der Stimmen kam.
Die Bauernbewegung (BBB), die erst wenige Jahre alt war und bei den landesweiten Provinzwahlen im März stärkste Kraft war, hat stark an Unterstützung verloren und erreicht mittlerweile Zustimmungswerte im einstelligen Bereich . Innen. Sie wird jedoch weiterhin ihren politischen Einfluss behalten, da sie über die Mehrheit in der ersten Kammer des Parlaments (dem Senat) verfügt, die von den Provinzversammlungen besetzt ist und allen Gesetzesvorschlägen zustimmen muss.
Die stärkste Kraft ist der „Formatierer“
Obwohl Pieter Omtzigt (NSC) ein neues Verhältnis zwischen Bürgern und Staat befürwortete, in der Hoffnung, die Rechte des Parlaments gegenüber zu stärken Dilan Yesilgoz (VVD) priorisiert den Rechtsliberalismus als Tochter kurdisch-türkischer Einwanderer, die die erste weibliche Premierministerin und erste Regierungschefin des Landes werden könnten hat einen Migrationshintergrund. Frans Timmermans (PvdA/GL) hingegen konzentriert sich auf klassische sozialdemokratisch-grüne Themen. Aktuellen Umfragen zufolge sind die Themen Einwanderung, Wohnungsbau (rund 400.000 Wohnungen fehlen im ganzen Land) und der grüne Wandel (insbesondere der für die Niederlande besonders relevante Agrarsektor) entscheidend und können dabei eine entscheidende Rolle spielen Wahlen.
Traditionell ist der Spitzenkandidat die stärkste politische Kraft in der zweiten Kammer, der sogenannten „Zweiten Kammer“. Der „Formatter“ hat die Aufgabe, ein Bündnis auszuhandeln. Daher ist es unwahrscheinlich, dass der NSC oder der VVD aufgefordert werden, eine politische Mehrheit zu organisieren. Auch inhaltlich gibt es erhebliche Überschneidungen beider Parteien, die aber angesichts der aktuellen Situation allein nicht ausreichen. Andererseits ist vor allem bei jungen Menschen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren eine größere Sympathie für die links-grüne Koalition zu erkennen, da sie insbesondere Timmermans als Aushängeschild für eine andere Politik sehen.
In den letzten Jahrzehnten zeichneten sich die Koalitionsverhandlungen in den Niederlanden durch eine Besonderheit aus: Sie brauchen Zeit. Nach den Wahlen 2021 brauchte König Willem-Alexander fast zehn Monate, um den neuen und alten Regierungschef und sein Kabinett Mark Rutte zu vereidigen.
Vertrauenskrise zwischen Volk und politischen Parteien
Dem Ende der vorherigen Regierung und dem Aufkommen und der Popularität neuer politischer Kräfte muss eine tiefe Vertrauenskrise zwischen dem Volk vorausgehen und politische Parteien. Im Kontext betrachtet. Umfragen zufolge erreichte dieser Anteil bei der letzten Bundestagswahl 2021 seinen Höhepunkt. Während in den 1980er Jahren rund 80 % der Bevölkerung klassische Volksparteien in der Mitte des politischen Spektrums wählten, beträgt dieser Anteil heute nur noch etwa 40 %.
Dies gilt insbesondere für die Christdemokraten (CDA). Appel, ein Demokrat, hat Gefühle. Bis Mitte der 1990er Jahre war die ehemalige Nationalpartei des Landes größtenteils die stärkste Kraft im niederländischen Parlament. Im Jahr 2021 belegte sie mit nur 9,5 % der Stimmen den vierten Platz. In aktuellen Umfragen liegt die Zustimmung zwischen drei und fünf Prozent. Während ihre Konkurrenten NSC und BBB (gegründet von ehemaligen CDA-Funktionären) in den Umfragen besser abschneiden, versucht die Partei mit einem neuen Gesicht das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen. Ob dies bald der Fall sein wird, bleibt abzuwarten.
Die Niederlande und Deutschland sind wichtige Handelspartner und enge Verbündete der EU und der NATO.Die Verbindungen im politischen und wirtschaftlichen Bereich sind vielfältig und werden vor allem über die an die Niederlande angrenzenden Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen koordiniert. Die neue Regierung in Den Haag kann daher auf der engen Zusammenarbeit der letzten Jahre aufbauen und die Beziehungen zu relevanten Zukunftsthemen, wie zum Beispiel dem Bereich grüner Wasserstoff, weiter ausbauen. Unabhängig vom Wahlergebnis sollte dies das sein, was die Niederlande wollen.
Dr. Hardy Ostry ist Leiter des Europabüros der Konrad-Adenauer-Stiftung und Kai Glasses ist Berater des Europabüros der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Quelle: www.ntv.de