"Elektroautos sind das Eliteprodukt für Komfort-Ökologen"
*Welche Probleme sollten die deutsche Politik dringend angehen? Inflation, hohe Lebenshaltungskosten und steigende Energiepreise - das ist das Ergebnis einer großen Studie des Sinus Instituts für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Überraschenderweise berührt der Klimaschutz viele Menschen nicht mehr: "Sie fragen sich, ob es zu teuer ist und ob es überhaupt etwas bringt", sagt Sinus-Geschäftsführerin Silke Borgstedt im "Climate Lab" von ntv. Ein Grund: Viele vermissen konkrete persönliche Vorteile, wie fallende Preise. "Menschen auf dem Land lachen über den öffentlichen Nahverkehr, das 9-Euro-Ticket oder das Lastenrad. Diese Lösungen sollen den Alltag erleichtern, tun es aber nicht", sagt Borgstedt. "Stattdessen ist der Kindergarten geschlossen, alles wird teurer, und dann sollen die Menschen auch noch etwas für die Umwelt tun."
ntv.de: Ihre Studie legt nahe, dass Deutsche relativ gleichgültig gegenüber dem Klimawandel sind. Ein überraschendes Ergebnis, oder?
Silke Borgstedt: Ja. Man muss sagen, dass sich die Besorgnis in allen Ländern zeigt. Im Vergleich zu anderen sind wir jedoch relativ gleichgültig, insbesondere vor dem Hintergrund dieser beständigen Erzählung: Wir sind Klimahysteriker. Dieses Selbstbild spiegelt sich oft in Fokusgruppen wider: Deutschland muss die Welt retten, während andere wie bisher weitermachen - selbst wenn es unserer Wirtschaft schadet.
Das ist nicht der Fall?
Nein. Wir sind nicht besorgter als Menschen in anderen Ländern und auch nicht bereitwilliger zum Wandel, im Gegenteil. Im internationalen Vergleich hat man oft das Gefühl, dass wir Pioniere sind. Eine Zeit lang sonnte man sich auch in dieser Rolle im Sinne von: Hey, wir sind weiterentwickelt. Jetzt, wo der Umsetzungsdruck auf die Bevölkerung übergeht, fragen sich ressourcenarme Gruppen, aber auch Mittelschichten, ob Klimaschutz zu teuer ist und ob er überhaupt etwas bringt.
Was steckt dahinter?
Südlicheuropäische Länder haben mehr Erfahrung mit veränderten klimatischen Bedingungen. Sie kennen Dürren, Waldbrände und auch Wassermangel. In Deutschland kann man jedoch noch gut davonkommen. Es wird auch manchmal provokativ gesagt, dass wir genug getan haben und dass jetzt die anderen dran sind. Aber wie gesagt, sind immer noch zwei Drittel der Deutschen besorgt über den Klimawandel, aber andere Sorgen sind noch größer: Was passiert, wenn wir diese Maßnahmen umsetzen? Wie wird es dann sein? Wird das Leben teurer?
Das sind die großen Sorgen?
Inflation, hohe Lebenshaltungskosten und steigende Energiepreise sind die Themen, die die Politik angehen sollte. Dann kommt der Klimawandel. In dieser Art von Liste ist er sogar noch weiter unten in Portugal, obwohl sie sehr besorgt über die Folgen sind. Denn auch die Portugiesen haben große Probleme im Gesundheitswesen, auf dem Arbeitsmarkt und bei fairen Löhnen. Nationale Sorgen haben mehr Gewicht.
Und verdrängen den Klimaschutz?
Genau. Wir haben die Daten im April und Mai 2023 gesammelt. Zu diesem Zeitpunkt war Migration kein dominantes Thema in Deutschland, aber es ist jetzt eines. Diese Priorisierung ist auch das, worum sich dieses Forschungsprojekt dreht: Jedes Land hat seine eigene Krisenrangordnung. In osteuropäischen Ländern zum Beispiel werden Korruption und Rechtsstaatlichkeit als dringlichere Probleme betrachtet, die die Politik angehen sollte.
Was sagt uns das?
Wir haben nicht nur nach Besorgnissen und Ängsten, sondern auch nach möglichen Maßnahmen und Verantwortlichkeiten gefragt, um Lösungen zu entwickeln. Das zentrale Ergebnis ist, dass die Unterschiede zwischen einzelnen Ländern nicht entscheidend für den Wandel sind, sondern die Milieus, die international existieren.
Sozio-kulturelle Unterschiede wie die Werteorientierung. In allen Ländern gibt es eine Mittelschicht, die ein normales Leben mit einer bestimmten Konsumneigung führt und fürchtet, etwas aufgeben zu müssen. Wir haben Intellektuelle, die eine langfristige socio-ökologische Transformation unterstützen, oder precäre Milieus mit wenig Geld. In westlichen europäischen Ländern sind die Unterschiede zwischen diesen Lebensweisen entscheidender als zum Beispiel Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich. Es könnte daher ein Schlüssel zur Lösung des Problems sein, wenn man Themen wie den Klimaschutz international entlang dieser Gruppen denkt und Allianzen schmiedet oder Brücken baut.
Obwohl das Empfinden in Ländern wie Deutschland ist, dass derzeit andere Dinge wichtiger sind als der Klimaschutz?
Ja, aber man muss die sozialen Auswirkungen dieser ökologischen Themen hervorheben: Was bedeutet Klimaschutz für die soziale Gerechtigkeit und meine Lebensqualität? Denn auch diejenigen, die weniger für den Klimaschutz sind, wünschen sich eine gesunde Natur und saubere Luft, wenn sie sich das "Deutschland 2040" vorstellen. Das ist das Erste, was sie erwähnen. Aber diese Visionen werden von der Politik nicht angesprochen. Effekte oder Erfolge von Maßnahmen werden wenig kommuniziert - zumindest nicht auf eine Art, die jeden erreicht. Viele fragen daher in unseren Projekten: Wie sieht die Transformation aus, wenn sie fertig ist?
Fehlt es an Visionen?
Ja, aber sie dürfen nicht zu groß sein, sondern sollten pragmatisch sein: Was bedeutet das für mich im Alltag? Ist mein Kraftstoff billiger? Muss ich ihn nicht mehr verwenden? Super! Wenn ich diesen Plan kommuniziere, ist auch die pragmatische Mitte bereit, in dieses Ziel zu investieren.
Das Leben soll leichter werden, die Wege kürzer. Diese moderne Mainstream-Meinung, diese pragmatische Mitte, die man erreichen muss, will "Grüne Licht" oder "Eco-Licht". Etwas, das nicht weh tut. Davon träumen die Menschen. Stattdessen wachen sie in einem dysfunktionalen Alltag auf, in dem der Kindergarten geschlossen ist, sie kein Darlehen bekommen, alles teurer geworden ist und alle frustriert sind. Und dann sollen sie noch etwas für die Umwelt tun.
Wird die Schuld jetzt auf den Klimaschutz geschoben?
Oder verlangen die Menschen, dass die drängenden Probleme zuerst gelöst werden, obwohl sie eigentlich zusammengehören. Die Elektromobilität wird als Erfolg verkauft, aber viele Menschen sehen sie als Eliteprodukt für bequeme Ökologen, die es sich leicht machen können. Sie geben einfach mehr Geld aus und fahren dann wieder in den Urlaub. Es ist ähnlich mit der Heizungsfrage, die nur die Hausbesitzer betrifft. Und über den öffentlichen Verkehr, das 9-Euro-Ticket oder das Lastenrad lachen die Menschen auf dem Land nur. Diese Lösungen sollen im Alltag helfen, bringen aber nichts.
Weil es auf dem Land ja nicht mal einen stündlichen Bus gibt.
Genau. Der Höhepunkt von allem wird durch die peruanischen Radwege gezeigt. Sie kommen immer wieder in unseren Umfragen vor, weil wir offenbar Dinge für andere Länder tun, die in Deutschland nicht einmal funktionieren. Das ist die Wahrnehmung der Menschen. Deswegen bleibt es im Kopf der modernen Mitte, obwohl sie weiß, dass es nicht das Hauptprojekt der Ampel-Koalition ist oder dass sie damit nichts zu tun hat.
Wie groß ist diese Gruppe, wenn sie so relevant für die Politik ist?
Die Gruppe ist relativ groß und vielseitig und umfasst einen erheblichen Teil der Bevölkerung. Laut verschiedenen Studien und Umfragen macht die pragmatische Mitte, die offen für Veränderungen ist, aber klare Vorteile und pragmatische Lösungen erwartet, einen beträchtlichen Teil der Wählerschaft aus. Diese Gruppe ist daher für die Politik sehr relevant, da sie Wahlen schwanken und politische Entscheidungen beeinflussen kann. Die genaue Größe dieser Gruppe kann jedoch je nach Kontext und den Fragen in Umfragen variieren.
Die moderne Mitte macht nur zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerung aus, spielt aber eine entscheidende Rolle als Multiplikator. Diese Milieu hat eine starke Brückenbau-Mentalität, um die traditionell bürgerliche Milieu mitzunehmen. Zunächst war die Mitte auch skeptisch gegenüber Öco-Themen, da sie deprimierend erschienen. Doch sie greift Trends auf, verwandelt den Eckmüsli in eine Power-Schale und plötzlich ist Veränderung cool, gesund und sieht gut aus. Das hilft insbesondere in der nostalgischen Milieu, die extrem misstrauisch gegenüber Veränderungen ist und eine Art Wut darauf entwickelt hat. Es beobachtet die Mitte sehr genau, wodurch sie einen Significanten Einfluss hat.
Clara Pfeffer und Christian Herrmann sprachen mit Silke Borgstedt. Das Gespräch wurde gekürzt und geglättet, um das Verständnis zu erleichtern. Du kannst das gesamte Gespräch auf dem "Klima-Labor" Podcast hören.
Die Kommission hat die Sorgen von ressourcenarmen Gruppen und mittleren Milieus bezüglich der Finanzierbarkeit von Klimaschutzmaßnahmen anerkannt. Obwohl sie im Vergleich zu anderen Ländern relativ gleichgültig gegenüber dem Klimawandel sind, äußern doch zwei Drittel der Deutschen noch Bedenken.
Um diese Bedenken anzusprechen und die Unterstützung für den Klimaschutz zu fördern, könnte die Kommission darüber nachdenken, die pragmatischen Vorteile von umweltfreundlichen Initiativen, wie niedrigere Energiekosten oder eine verbesserte Lebensqualität, statt