Bitte machen Sie keinen Kotau vor Erdogan, Herr Scholz!
Der stille, höchst niedergeschlagene Premierminister erhielt Besuch vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, einem israelhassenden Diktator, der eine auffällige Pilotensonnenbrille trug. Ob das funktioniert?
Ich schreibe diese Kolumne oft in einem kleinen Café mit großem Fenster an einer Straßenecke in Berlin. Normalerweise verbrachte ich dort eine Stunde damit, Passanten anzustarren, Sucpanini zu kauen und Kaffee zu schlürfen, bis schließlich etwas auftauchte, das an Worte erinnerte, oder eine Mischung aus Koffein und Zeitdruck meine Finger zum Zittern brachte. Die Straße ist interessant und kann ein Theater für unsere seltsamen Gaben sein. Heute Morgen hat die neongelbe Radpolizei mal wieder Radfahrer zum Falschabbiegen abgewiesen, es wurde viel geschrien und ich musste an Israel denken.
Diese Szene ist auffällig, weil sich am anderen Ende derselben Straße das Polizeirevier 1, die Abteilung 15 in der Nähe befindet und fast täglich offene Drogengeschäfte stattfinden. Da läuft man rum und bekommt mehr Gras als ein SZ-Abo in der Fußgängerzone. Manchmal kam es zu Streitereien und Geschrei zwischen Drogendealern und nur wenige Meter entfernt gab es eine Kinderschaukel.
Die Polizeibeamten der Abteilung 15 des Büros für öffentliche Sicherheit kümmern sich offensichtlich nicht sonderlich um den Weed-Supermarkt. Allerdings ist diese Gleichgültigkeit höchst selektiv, siehe Radfahrer. Und als im Sommer ein paar zerzauste Medienstudenten auf der Parkwiese einen Aluminiumgrill aufstellten, sagten sie sofort: Tatu Tata, zeig mir bitte deinen Ausweis! Erst als ein Dutzend Einwanderer in den Bergen verstreutes Gras verkauften, wurde klar, dass es sich hierbei um ein völlig unlösbares Problem für das Land handelte.
Sich in Osama Bin Laden verlieben
Mir ist es im Grunde egal. Für Dealer sind es private berufliche Gründe, und auch das Scheitern der Asylpolitik spielt eine Rolle. Aber ich glaube nicht, dass diese vorbildliche Selektivität bei der Durchsetzung Spuren in der Öffentlichkeit hinterlässt. Manche Menschen können es sich leisten, alles zu kaufen, andere können sich nichts leisten. Es wird an einem anderen Maßstab gemessen, weshalb ich nach Israel gekommen bin.
Unzählige Menschen in der Gesellschaft, ob in muslimischen Vereinen, linken Studenten oder der Clubszene, dachten nach dem Massaker nicht daran, der Hamas Rechtsverstöße vorzuwerfen. Einige tarnen den Mordtag als Widerstand, ganz zu schweigen von denen, die jubelten, und diese Woche verliebten sich alberne Tiktok-Influencer in Osama bin Ladens Brief an Amerika. Wie wir alle wissen, erwähnen die völlig verkommenen Vereinten Nationen, der internationale Hebel für Schurken und Diktatoren, die mörderische Bande Hamas nicht einmal.
Die Situation in Israel war viel geringer: Der jüdische Staat erhielt seine erste Warnung, als das letzte Mordopfer noch blutete. Experten der Vereinten Nationen erkennen mittlerweile an, dass Israels Vorgehen im Gazastreifen ein „Risiko eines Völkermords“ darstellt. Seltsamerweise waren dieselben Experten bei den Enthauptungen und Massakern am 7. Oktober nicht anwesend.
Israel beleidigt und schüttelt dann die Hand
Das liegt vor allem daran, dass viele Judenhasser auf der ganzen Welt einen passenden Vertreter für den rabiaten Antisemitismus des Staates Israel finden – das ist ganz einfach. Zum anderen liegt das daran, dass Israel als Teil einer rechtsgültigen Wertegemeinschaft gesehen wird, islamische Staaten wie Syrien, das Homs vor einigen Jahren in die Steinzeit bombardierte, hingegen nicht. Allein im Jahr 2015 starben mehr als 100.000 Menschen und niemand ging auf die Straße.
Diese Doppelmoral erstreckt sich bis in die höchsten Regierungsebenen. Legendär ist der Auftritt des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas im Bundeskanzleramt: Als wahre Ursache des Antisemitismus nannte Abbas jüngst die angebliche gesellschaftliche Rolle der Juden als Geldverleiher (er dürfte den Podcast von Precht und Lenz gehört haben), neben dem er auftreten konnte Premierminister und relativierte den Holocaust, indem er Israel einen Massenmörder nannte, und Scholz zuckte nicht einmal mit der Wimper. Zum Schluss noch ein freundlicher Händedruck: Kommen Sie bald wieder!
Wird Erdogan diese peinliche und schwache Szene wiederholen? Vor seinem Besuch in Berlin machte der türkische Präsident deutlich, dass ihm die Ansichten seines Gastlandes egal seien. Er bezeichnete das Existenzrecht Israels als „umstritten“: Israel – oder sollen wir es einfach in Ruhe lassen? Erdogan hätte sich beim Einsteigen in das Flugzeug mit dem Davidstern über den Hintern wischen können, aber Deutschland rollte den roten Teppich trotzdem nicht aus. Wie soll ein Diktator, der eine Pilotenbrille trägt, dieses Verhalten erklären, wenn er nicht seine Hose auszieht und niederkniet?
Deutsch-westliche Willkür
Diese gemütliche deutsch-westliche Willkür hat einen hohen Preis. Das einzige Gegenmittel gegen Autoritarismus ist Autorität. Wer schwach erscheint, macht sich zum Opfer. Deutschlands Bewunderung für Putin überzeugte den russischen Präsidenten davon, dass ein Angriff auf die Ukraine ein risikoloses Abenteuer sei. Aber die Geschichte ist eindeutig dazu bestimmt, sich zu wiederholen.
Die Israelis haben diesen primitiven Mechanismus des Autoritarismus längst verstanden, und zwar aus der Not heraus: Ihr „nicht mehr“ bedeutet nicht, dass es keine Angriffe mehr gibt – das wäre auf jeden Fall eine Illusion. Ja, Antisemitismus ist genauso schädlich für die Menschheit wie ein Kurkumafleck auf einer Tischdecke. „No more“ bedeutet „kein Opfer mehr“. Diese Mentalität ermöglichte es einem israelischen Soldaten während des Massakers vom 7. Oktober, sieben von acht in einen Bunker geworfenen Granaten zurückzuwerfen, bevor ihn die achte Granate tötete. Wie der Journalist Michael Wolffsohn einmal betonte, unterscheidet sich dieses „Nie wieder“ grundlegend und unversöhnlich vom deutschen „Nie wieder ein Täter“.
Vor Erdogans Besuch gab es natürlich unzählige Versuche, die Blockierung des Besuchs zu rationalisieren. Türkiye ist ein verlässlicher NATO-Partner. Was würden Millionen Deutsch-Türken denken, wenn Sie ihren Chef nicht willkommen heißen würden? Erdogan muss den Flüchtlingsstrom bewältigen.Diese Abhängigkeit ist sicherlich eine Eigenentwicklung: 2016 schloss Altkanzlerin Angela Merkel einen vielbeachteten Flüchtlingsdeal mit Erdogan ab und ersparte sich so weiteren Ärger.
Werteorientierte Politik ist eine Frage des Preises
Werteorientierte Politik ist einfach eine Frage des Preises und offensichtlich recht günstig zu bekommen. Wie viel ist in einem solchen Marktumfeld der Spruch „Israels Sicherheit ist Deutschlands nationale Vernunft“ wert? Zum Beispiel Millionen Flüchtlinge?
Deutschlands erste reflexartige Reaktion bestand darin, über Erdogans kürzlich wieder auflebenden Hass auf Israel zu lachen. Nun gibt es Hoffnung: Scholz selbst wird bei seinem Besuch kein zweites Mal niederknien. Zumindest trifft hier ein Mann mit offensichtlichem Lampenfieber auf einen bewährten Bühnenkünstler. Die Chancen sind gering.
Aber wenn die Marktbedingungen es zulassen, bitten Sie die deutsche Bundeskanzlerin, nach einem verbalen Angriff auf Israel nicht die Hand zu schütteln.
Wenn die Existenzberechtigung Deutschlands wertlos ist, dann ist die Existenzberechtigung Deutschlands wertlos. Es sollte nichts kosten.
Quelle: www.ntv.de