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Antisemitische Einstellungen sind rückläufig - aber Juden erleben eine Welle des Hasses

Eine vom Stern in Auftrag gegebene Umfrage zeigt, dass der Antisemitismus in Deutschland weniger verbreitet ist als noch vor 20 Jahren. Gleichzeitig erleben Juden eine Welle des Hasses. Wie passt das zusammen?

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Manchmal sind es Graffiti, manchmal wird es gewalttätig: ein geschändeter Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof Graves Millen.aussiedlerbote.de

Exklusive Umfrage - Antisemitische Einstellungen sind rückläufig - aber Juden erleben eine Welle des Hasses

Brandsätze an Synagogen, hasserfüllte Parolen bei Anti-Israel-Demonstrationen und aufgesprühte Davidsterne an Wohnhäusern: Seit den Hamas-Terroranschlägen vergeht in diesem Land kaum ein Tag ohne Berichte über Anfeindungen und Übergriffe gegen Juden.

Mehr als die Hälfte der Deutschen glaubt, dass sich die Einstellung gegenüber Juden in den letzten Jahren verschlechtert hat. Die gute Nachricht, vielleicht überraschend: Sie irren sich. Jedenfalls ist die Zustimmung zu offen antisemitischen Karikaturen und Klischees in den letzten 20 Jahren zurückgegangen. Das zeigt eine repräsentative Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag des Stern Ende November durchgeführt hat.

Im Jahr 2003 hat Forsa bereits die gleiche Frage gestellt, so dass die Ergebnisse verglichen werden können. 24 Prozent glauben immer noch, dass die Juden von heute versuchen, die nationalsozialistische Vergangenheit auszunutzen. Im Jahr 2003 waren es noch 38 Prozent. 14 Prozent glauben, dass Juden zu viel Einfluss in der Welt haben. Fast die Hälfte der Befragten ist der Meinung, dass die Verfolgung von Juden beendet werden sollte.

Antisemitismus ist unter AfD-Anhängern besonders ausgeprägt

Ältere Befragte waren durchweg positiver eingestellt als jüngere Befragte. Auch in Bezug auf das Bildungsniveau gibt es einen klaren Trend: Je niedriger das Bildungsniveau, desto höher die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen. Dies gilt sowohl für heute als auch für vor 20 Jahren.Antisemitismus ist besonders deutlich bei Anhängern der Alternative für Deutschland.

Etwa zwei Drittel der Befragten sind der Meinung, dass Juden traditionsbewusst, geschäftstüchtig und solidarisch sind. Diese Attribute sind an sich nicht negativ, verweisen aber auf das Stereotyp des gierigen, verschwörerischen "Weltjuden". Im Gegensatz dazu nimmt nur ein Drittel der Menschen Juden als tolerant oder humorvoll wahr.

Der Anteil der "potenziell antisemitischen" Deutschen ist von 23 Prozent auf 7 Prozent gesunken. Eine Erklärung, die Fossa anführt, ist, dass viele ältere Nazis und Deutsche, die als Kinder in der nationalsozialistischen Ideologie sozial erzogen wurden, in den letzten 20 Jahren gestorben sind. Die Jungen sind tendenziell weltoffener als die Alten.

Forsa-Umfrage im Auftrag des Stern. 2018, Umfrage unter deutschsprachigen Bundesbürgern ab 14 Jahren (1.008 in Westdeutschland und 1.010 in Ostdeutschland), durchgeführt zwischen dem 24. und 28. November 2023, statistische Fehlerspanne +/- 2,5 Prozentpunkte.

Eine grundlegende Schwierigkeit in der Vorurteilsforschung ist das Phänomen der sozialen Erwartungen. Vor allem bei sensiblen Themen neigen manche Befragte dazu, Antworten zu geben, die sie für sozialverträglich halten. Forsa weist darauf hin, dass es diesen möglicherweise verzerrenden Effekt auch schon vor 20 Jahren gab, die Werte sind also vergleichbar. Aber wann war die Klage, dass man dies oder jenes nicht mehr sagen darf, lauter als heute? Wann haben Medien, Politik und Zivilgesellschaft das letzte Mal so viel Wert auf uneingeschränkte Solidarität mit Israel und Deutschen Juden gelegt?

Die Tendenz, dass offen antisemitische Äußerungen weniger Beachtung finden, könnte eine gute Nachricht sein, wenn sich auf den Straßen nicht eine völlig andere Realität abzeichnen würde. Wenn Juden nicht in Angst leben.

Durchschnittlich 29 antisemitische Vorfälle pro Tag

Die Zahl der antisemitischen Straftaten in Deutschland ist nach den Hamas-Anschlägen auf Israel deutlich gestiegen. Zwischen dem 7. Oktober und dem 23. November registrierte das Bundeskriminalamt 680 antisemitische Straftaten. Die Behörden warnen, dass die Gefahr einer Eskalation groß ist.

Das Recherche- und Informationszentrum für Antisemitismus (RIAS) registrierte allein in Deutschland in den ersten Wochen nach den Hamas-Massakern 994 antisemitische Vorfälle, darunter Anschläge, Sachbeschädigungen und verschiedene Formen extremer Gewalt. Im Durchschnitt gab es 29 Vorfälle pro Tag.

Wie passt das zusammen?

"Die Gesellschaft als Ganzes ist viel sensibler für bestimmte Formen des Antisemitismus", sagt Marco Siegmund vom RIAS. "Meinungsumfragen sind wichtig für die Untersuchung von Antisemitismus, aber sie sind nur ein Teil des Puzzles." Beim RIAS beobachtet man nicht die Einstellungen, sondern antisemitische Vorfälle. "Man muss die Zahlen nebeneinander stellen."

Stern hat die Forsa-Untersuchung in Auftrag gegeben.

Sigmund sagte, die jüdische Gemeinde sei äußerst beunruhigt über die starke Zunahme antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober. "Die Menschen sind sehr besorgt um ihre Sicherheit".

Meinungsumfragen allein können die Realität des Antisemitismus nur bedingt wiedergeben. Fossa befragte nur deutsche Staatsbürger, aber auch hier lebende Ausländer machen sich antisemitischer Straftaten schuldig. Es macht einen Unterschied, ob ein Mensch allein, im Freundeskreis oder an einem belebten Stammtisch so denkt und spricht. Oder ob er bereit ist, seinen Hass zu entfesseln. Der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn hat den Judenhass persönlich untersucht. Er stellt fest, dass in den letzten Jahren ein Trend zu beobachten ist, den er als "Zunahme des Antisemitismus" bezeichnet: Diejenigen, die antisemitische Positionen vertreten, sind eher bereit, diese öffentlich zu äußern. "Der Kern der Antisemiten wird immer radikaler, brutaler und vielleicht sogar gewaltbereiter", so Salzborn.

Deshalb reiche es nicht aus, antisemitische Positionen nicht zu vertreten, sondern die Mehrheit müsse sich auch aktiv dagegen wehren, sagte er. "Andernfalls werden diejenigen, die sich weiter radikalisieren, einen größeren Einfluss auf die öffentliche Debatte haben.

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Quelle: www.stern.de

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