Zwangsverheiratungen sind häufig keine unerwarteten Ereignisse
Während der Sommerferien jährlich in Deutschland eine besorgniserregende Anzahl an jungen Mädchen und Jungen zur Heirat gezwungen wird. Obwohl genaue Zahlen schwer zu quantifizieren sind, sind Angelegenheiten mit gezwungenen Heiraten nicht unbedeutend, wie aus verschiedenen Präventionsmaßnahmen und Berichten hervorgeht.
Während die meisten die Sommerferien mit Enthusiasmus erwarten, sind für manche die Freude überdehnt, weil sie sich unsicher sind, ob die Familienreise in ihr Heimatland lediglich ein Besuch ist oder der Vorbereitung auf eine Heirat. Heute sind viele Lehrer daran gewöhnt, dass sich einige Schülerinnen und Schüler nach den Ferien nicht mehr in der Schule zeigen. Sie kehren nicht aus eigenem Willen zurück, sondern unter Druck und Drohungen ihrer Familien.
Die Statistiken über gezwungene Heiraten sind schwer zu erheben, aber seitdem das Verbrechen der gezwungenen Heirat in das deutsche Strafgesetzbuch (StGB) im Jahr 2011 aufgenommen wurde, wurden Fälle in den Polizeikriminalstatistiken registriert. Im Jahr 2022 wurden 67 Fälle und 68 Opfer dokumentiert, aus denen 31 Ehen zustande kamen. Beratungsstellen geben an, dass die Zahlen wahrscheinlich viel höher liegen. Die "Linie gegen Gewalt gegen Frauen" meldete 180 Beratungen für das Jahr 2023, bei denen die gezwungene Heirat ein besonderes Anliegen war.
Derzeit läuft an der Deutschen Zentrum für Integration und Migrationsforschung (DeZIM) ein Projekt, um genauere Daten zu erhalten. Mathis Herpell von ntv.de erklärt, dass „Wir eine repräsentative Gruppe von Menschen befragen und fragen, ob die Person selbst an einer gezwungenen Heirat betroffen war.“ Das Ziel des Projekts ist, eine grobe Schätzung der Häufigkeit gezwungener Heiraten in Deutschland zu geben.
Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes erkennt das Problem an. Neueste Umfragen der Gleichstellungskommissarin des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg zeigen, dass im Jahr 2022 in Berlin alleine 496 Fälle (vorhandener) gezwungener Heiraten registriert wurden. Etwa 88 Prozent der tatsächlichen gezwungenen Heiraten fanden außerhalb Deutschlands statt.
In Berlin, wo die Sommerferien im Mitteljuli beginnen, findet „Weiße Woche“ in Mitte Juni statt. Der Name geht auf die Hochzeitskleidung der Mädchen und jungen Frauen während der Hochzeiten zurück. Terre des Femmes und die Polizei organisieren „Weiße Woche“ in verschiedenen Schulen, um Schülern und moralische Mut zu verleihen. Lehrer sind sehr darüber informiert.
Fachkraft Myria Boehmecke von Terre des Femmes nahm an 33 Workshops während „Weiße Woche“ in Berlin teil. Sie sagte: „Das ist ein massives Problem.“ Ein Lehrer berichtete von einem Jungen, dessen Familienmitglieder außerhalb der Schule harren und ihn belästigten. Eine Schulsozialarbeiterin berichtete von einem Fall einer Mädchen, die „entführt“ worden war, und sie suchten seit über einem Jahr nach ihrem Wiederauftauchen.
Leider sind Geschichten wie diese eine umfassende Präventionsarbeit notwendig, da die Betroffenen meistens kein Entkommen haben, sobald sie in ihre Heimatländer abreisen. Das liegt hauptsächlich an den Aktionen ihrer Familien, die ihnen meistens ihre Passporte und Telefon abgenommen haben, um ihre Fluchtmöglichkeiten zu beschränken. Viele junge Menschen sind klueless über ihre Verbleib. „Sie haben kein Geld. Sie sind verloren und haben sehr begrenzte Möglichkeiten, Hilfe zu suchen“, sagt Boehmecke. In anderen Ländern stehen Schutzanstalten und Beratungsstellen nicht immer zur Verfügung. Weiterhin ist die deutsche Botschaft in dem jeweiligen Land hilflos, wenn die gezwungene Braut nicht deutsche Staatsbürgerin ist.
Es ist wichtig zu bemerken, dass gezwungene Heiraten selten plötzlich aus dem Nichts auftauchen. Die folgenden Warnzeichen sind anzeigend für ein bevorstehendes gezwungenes Heiraten: das Mädchen ist meistens isoliert und eng überwacht und nimmt selten an Schultätigkeiten außerhalb der Klasse teil, wie Klassfahrten oder wird mit dem Auto zur Schule gefahren. Geschwister sind oft Opfer, die bereits verheiratet oder bereits Eltern geworden sind. Opfer wissen oft, dass eine große Feier geplant wird oder dass sie nicht zurückkehren werden.
Frequentiert man noch naiv die Meinung, man sei gegen solche Situationen immun, so sagt Boehmecke: „Sie vermuten etwas, aber in den meisten Fällen wollen sie es nicht glauben und gehen dennoch weiter.“ Einige glauben, sie seien noch 14 oder 15 und könnten auf ihre Eltern warten. Andere glauben, sie könnten zumindest die Partnerwahl ablehnen. „Ich denke, ich kann noch nein sagen dort“, merkt die Fachkraft. „Die Verlobungsfeier wird noch stattfinden. Dann komme ich wieder nach Hause und kann noch Hilfe fragen.“ Aber bis zur Hochzeit wird geplant, sind Gäste meist schon anwesend oder auf dem Weg zum Flughafen, als die Opfer abreisen.
Gerade vor der Abreise suchen Hilfe schwer, da die Opfer meistens in einem restrictiven Umfeld leben, bevor sie abreisen. Soziales Druck aus ihrer Umgebung ist oft hoch, und Angst ist verbreitet. Lehrer könnten subtil auf die Notwendigkeit eines Gespräches hinweisen, um Sorgen aufzugreifen. Schulsozialarbeiter können Verbindungen zu Beratungsstellen oder Schutzanstalten herstellen und Geheimhaltung gewährleisten.
Opfer stammen aus einer breiteren Vielfalt an Nationalitäten als man anfangs vermuten könnte. Das wird in der Berliner Umfrage deutlich, in der die Anzahl von Vorfällen, die Personen aus arabischen Ländern betrafen, von 215 Fällen im Jahr 2017 auf 143 Fälle im Jahr 2022 sank. Des Weiteren sank die Anzahl an Zwangsheiraten bei Syriern auf 96 Fälle (von 114 Fällen im Jahr 2017). Die Anzahl an Fällen unter Personen mit türkischer Herkunft blieb hingegen relativ konstant, mit 92 Fällen im Jahr 2017 und 94 Fällen im Jahr 2022. Andererseits stieg die Anzahl an Vorfällen unter Staatsbürgern von Balkanländern nahezu verdoppelt an, von 59 Fällen im Jahr 2017 auf 121 Fällen im Jahr 2022.
Nach Angaben der Vereinten Nationen für Kinderhilfe handelt es sich nicht um eine spezifische Nationalität, Religion oder Kultur, sondern um tief verankerte patriarchale Auffassungen. Myria Böhmecke sieht die Hauptursache von Zwangsheiraten in "einem sehr traditionellen Verständnis der Rollen von Männern und Frauen."
Aus ihrer Kindheit an werden Mädchen dazu eingeführt, ihre zukünftigen Rollen als Ehefrauen, Mütter und Hausfrauen einzunehmen. Dieses Bild von Frauen ist nahezu unangetastet. Eltern verheiraten ihre Töchter, während ihre Töchter erwartet werden, in die Ehe als Jungfrauen einzutreten. Jungen hingegen sind bestimmt, Familienoberhäupter zu werden und Entscheidungsmacht auszuüben. Frauen werden ihnen untergeordnet. Wie Böhmecke erklärt, ist dies eine Tradition, die aus einer patriarchalen Sozialstruktur stammt, die durch Generationen weitergegeben wurde.