„Wir müssen anfangen, die Sozialausgaben in Angriff zu nehmen“
Für Ökonom Bernd Raffelhüschen ist die Schuldenbremse „ein Segen“. In Interviews vertrat er die unterschiedlichsten Positionen: Opposition gegen Sozialausgaben, Energiewende und Kritik an der Schuldenbremse.
Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte im Bundestag sein Bekenntnis, dass die Bundesregierung niemanden verschonen werde. Trotz der Haushaltskrise geht man nie alleine. Ist das angesichts des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und der enormen Einsparungen ein ernstzunehmendes Engagement?
Bernd Raffelhüschen: Das ist sicherlich eine gute Aussage. Aber das hat nichts mit der Realität zu tun. Scholz lenkt von der Verfassungsmäßigkeit seines Haushalts ab. Der nun eingeführte Nachtragshaushalt 2023 verstößt grundsätzlich gegen die Schuldenbremse und ist daher verfassungswidrig – zumindest sofern im Jahr 2023 kein Notstand vorliegt. Ich habe sie nicht gesehen.
Der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise prägen dieses Jahr noch. Ist das nicht das, was es schwierig macht?
Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs muss ein Ausnahmezustand außergewöhnlich und situativ sein. Wir können ein Thema aus dem Jahr 2022 nicht auf unbestimmte Zeit behalten. Doch die Regierung hat keine Wahl, da der Haushalt 2023 nur noch vier Wochen Zeit hat.
Ökonomen wie Rüdiger Bachmann weisen darauf hin, dass Krisen häufig länger als ein Geschäftsjahr andauern – weshalb das Urteil des Bundesverfassungsgerichts „gesamtwirtschaftlich ungebildet“ sei. Hat er recht?
Nein, ich habe eine andere Sicht auf die aktuelle Situation. Wir hatten in der Vergangenheit schon einmal Notfälle – natürlich! Beispielsweise hat die COVID-19-Krise eine Aussetzung der Schuldenbremse erforderlich gemacht. Aber der Ausnahmezustand ist vorbei und die Wirtschaft hatte genügend Zeit, sich anzupassen. Eine strikte Abgrenzung nach Haushaltsjahr kann diskutiert werden, es ist jedoch sinnvoll, den Bedarf jedes Jahr neu zu definieren. Das Problem ist anders.
Im Augenblick?
Wir haben unser Budget während der Corona-Krise deutlich erhöht und uns daran gewöhnt. Unser Budget beträgt 350 Milliarden Euro im Jahr 2019, 550 Milliarden Euro im Jahr 2022 und 480 Milliarden Euro im Jahr 2023. Das bedeutet, dass die Krise zwar nicht mehr besteht, wir die durch COVID-19 verursachten Mehrausgaben jedoch noch nicht reduziert haben. Wir diskutieren jetzt erneut über den Haushalt 2024 in Höhe von 480 Milliarden Euro. Das kann kein kluges, rationales Finanzmanagement sein.
Sie bevorzugen also Einsparungen im neuen Haushalt, um die entstandenen Lücken zu schließen?
Ja, es gibt keinen anderen Weg. Allerdings sehe ich keine politische Lösung: Die SPD will sich nicht mit den Sozialausgaben befassen, die Grünen wollen sich nicht mit der Energiewende befassen und die FDP will an der Schuldenbremse festhalten. Das ist die Quadratur des Kreises.
Welche Seite muss Ihrer Meinung nach die Kürzungen zuerst akzeptieren?
Die Schuldenbremse hat Verfassungsrang. Wir können das nicht länger ignorieren – auch nicht mit Notfallplänen oder Notlügen. Nein, wir müssen uns mit den Sozialausgaben befassen, insbesondere im Hinblick auf die Demografie. Aber wir müssen auch Subventionen bekommen. Es ist unwahrscheinlich, dass eine übereilte Energiewende zu einer Deindustrialisierung führt.
Beeil dich?
Ja, übertrieben und gehetzt. Deutschland kann die globale Erwärmung nicht alleine stoppen. Wenn andere Länder sich noch ein Jahrzehnt für die Energiewende gönnen, sollten wir vielleicht das Gleiche tun.
Aber Sie haben auch Sozialausgaben erwähnt. was hast du im Kopf?
Wir müssen an jeder Ecke starten. Nicht mit einer Nagelschere, sondern mit einem Rasenmäher. Wir müssen ausnahmslos jeden bitten, Opfer zu bringen. Angefangen beim Geld der Bürger, das stärker an die Arbeitsbereitschaft des Einzelnen gekoppelt werden sollte, bis hin zu Rentnern, deren Renten weniger wachsen sollten als die gesamte Lohnentwicklung der Erwerbsbevölkerung. Gleiches gilt für Rentner und Beamte. Ich wusste genau, dass ich mich bald schneiden würde. Dazu müssen wir die Gesundheitsausgaben effizienter nutzen. Wir haben zu viele nicht spezialisierte Krankenhäuser, die exorbitant subventioniert werden. Bei der Pflege brauchen wir mehr Eigenleistungen. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass alles aus Gemeinschaftshaushalten finanziert wird. Denn die Staatskasse ist voll mit arbeitenden Menschen, und die arbeitende Bevölkerung wird immer kleiner.
Aber das wären äußerst unpopuläre Maßnahmen...
Als Politiker würde ich diese Dinge nicht sagen oder tun, weil ich dann meinen Job verlieren würde.
Vor allem einkommensschwache Gruppen werden enorme Verluste erleiden.
Deutschland hat nicht nur die reichsten Reichen der Geschichte, sondern auch die reichsten Armen. Es ist leicht zu erwarten, dass sich jeder bis zu einem gewissen Grad selbst helfen kann. Dabei geht es nicht um die Abschaffung der Grundsicherheit. Es geht um die Abkehr von der Idee einer Grundsicherung, die keinen Nutzen bringt. Es gibt etwas, das fast jeder tun kann und sollte. Wenn das nicht reicht, töten wir ihn. Das war schon immer die Philosophie unseres Wohlfahrtsstaates. Was ich meine ist: Es kann nicht sein, dass beispielsweise an manchen Orten in Berlin die Grundsicherheitskontrollquote bei 40 % liegt, der Flughafen BER aber keine Koffer verladen kann, weil jemand vermisst wird.
Die Linke versucht es von der anderen Seite und schlägt eine Vermögenssteuer von zwei Prozent vor. Ist das nicht ein Ausweg für diesen speziellen Fall?
Nein auf keinen Fall. Einerseits haben die Reichen unglaubliche Summen beigesteuert. Die oberen 10 % der Erwerbstätigen zahlen fast 50 % der gesamten Einkommenssteuer. Andererseits gibt es sehr reale Hindernisse. Vermögenssteuern müssen auf der Grundlage des Marktwerts bemessen werden. Das bedeutet einen unglaublichen Verwaltungsaufwand seitens der Behörden, weil jemand diese Marktwerte schätzen muss. Dies ist nur schwer oder nur durch einen deutlichen Personalaufbau zu erreichen – was wiederum zu höheren Kosten führt. Die Hälfte der potenziellen Einnahmen wird wieder weg sein. Aus linker Sicht ist das also, wie so oft, keine gute Idee.
Zusätzlich zu den Sozialleistungen werden auch Subventionen gekürzt. Wo würden Sie anfangen?
Ich möchte die Diskussion über die Industriestrompreise sofort beenden. Stattdessen würde ich der Industrie mehr Zeit für die Energiewende geben – fünf bis zehn Jahre.
Aber diese Unternehmen betonen immer wieder, wie wichtig ihnen die aktuellen Strompreise sind. Ja, natürlich stimmt es. Nur sind mehr als 50 % des Strompreises Steuern und Abgaben. Würden wir jetzt die volle geplante CO2-Steuer einführen, kämen weitere 5 bis 10 Cent hinzu. Infolgedessen begann der Staat, teurere Produkte zu subventionieren. absurd.
Kurz gesagt: Wir haben in Deutschland also kein Einkommensproblem, sondern ein Ausgabenproblem?
Natürlich. Gemessen am BIP ist das Einkommen höher als je zuvor. Wir können also keinen verfassungsmäßigen Haushalt haben? Ich kann es mir nicht vorstellen.
Andere Ökonomen wie Monika Schnitzer plädieren weiterhin dafür, die Schuldenbremse aus dem Grundgesetz zu streichen. Warum bist du so resistent?
Aus formalrechtlicher Sicht haben Schuldenbremsen Verfassungsrang. Wer es aufheben will, bräuchte eine Zweidrittelmehrheit – ich glaube aber nicht. Ich persönlich halte die Schuldenbremse für einen Segen. Wenn wir sie nicht hätten, würde der Damm brechen. Es verhindert Schenkungen auf Kosten künftiger Generationen, denn die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Die Schuldenbremse ist eine in unserer Verfassung verankerte Generationengerechtigkeit.
Wie wäre es mit einer Reform der Schuldenbremse? Die jährliche Grenze von 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Neuverschuldung erscheint eher willkürlich. Sind Sie einverstanden?
Ja, das ist eigentlich willkürlich, und da können Sie anfangen. Aber ich würde lieber 0,3 % als 0,4 % unterstützen.
Was wäre, wenn wir Investitionen stärker von der Schuldenbremse ausnehmen würden, also Investitionen vor Staatskonsum? Letztlich ist der Sonderfonds ein ähnliches Instrument – er wurde nur unter Verstoß gegen die Verfassung geschaffen.
Es ist ein Mythos, dass die Schuldenbremse notwendige Investitionen verhindert. Stattdessen wurden weitere Ausgaben des Sozialstaats verhindert. Denken Sie an die sogenannte Friedensdividende. Wir hätten jahrelang Geld in das Militär stecken können. Stattdessen landete es im Sozialstaat. Dies ist nur eines von vielen Problemen, wenn man an Autobahnen, Eisenbahnen oder andere öffentliche Infrastrukturen denkt.
Genau deshalb ist es sinnvoll, Schulden aufzunehmen – etwa bei der öffentlichen Infrastruktur. Damit werden wir noch viele Jahre Freude haben.
Ich bin diesbezüglich nicht sehr optimistisch. Wenn man sich KTF anschaut, ist ein solcher Topf mit Subventionen gefüllt, nicht mit Investitionsausgaben. Das nützt unserer Branche nicht viel.
Jannik Tillar im Gespräch mit Bernd Raffelhüschen
Bernd Raffelhüschen ist Professor für Finanzwirtschaft und Direktor des Zentrums für Forschung zu Generationenverträgen an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Neben seinem Engagement in internationalen Forschungsprojekten engagiert er sich auch in der Forschung zu praktischen sozialpolitischen Fragestellungen – etwa als Mitglied des Rürup-Ausschusses, des Steuerrechtsausschusses oder als Vorstandsmitglied der Stiftung Marktwirtschaft.
Dieses Interview erschien zuerst auf Capital.de
Quelle: www.ntv.de