Wenn der Zappelphilipp ein Mädchen ist
Mädchen werden in der Schule oft unbemerkt bleiben, wenn sie ADHD haben. Sie sind meistens ruhiger und unsichtbarer als Jungen. Aber die Störung verschwindet nicht. Viele Betroffene werden erst im Erwachsenenalter diagnostiziert oder überhaupt nicht.
ADHD, die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, oder AD, die Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, ist "eine Besonderheit menschlicher Existenz." Das beschreibt Astrid Neuy-Lobkowicz. Menschen mit AD(H)D sind nicht besser oder schlechter als andere, sondern einfach anders. Auch bei Frauen ist diese neurobiologische Stoffwechselfehlstellung oft nicht erkannt, sagt die Psychotherapeutin für Psychosomatik und Psychotherapie mit Praxis in München.
Die Unterschiede beginnen in der Kindheit. Bei Jungen ist ADHD viermal häufiger diagnostiziert als bei Mädchen, obwohl die Störung bei den Geschlechtern gleich häufig vorkommt, sagt Neuy-Lobkowicz. Sie hat ihr neuestes Buch dem Phänomen "Weibliche AD(H)D" gewidmet. Etwaige Mädchen sind eher hypoaktiv, also träumerischer, schüchtern, langsamer und unsichtbarer als Jungen.
Vorurteile im Kopf
Laut Matthias Rudolph ist auch eine Vorurteilsbildung in den Köpfen von Kinderärzten und Ärztinnen ein Grund für die unterschiedlichen Diagnosequoten. "Die Therapeuten haben das Bild eines hyperaktiven Jungen in ihren Köpfen," sagt der Psychosomatiker und Psychotherapeut.
Frauen können auch die impulsive-hyperaktive Art der Störung haben. Dann sind sie oft "das typische wildkindhaftes Mädchen" und werden als Kinder mitgeteilt: "Es hätte besser als Mädchen gewesen." Oder wie Neuy-Lobkowicz es beschreibt: Sie erleben "viel Freude, viel Leid, viel Schmerz, viel Aufregung. Sie sind einfach immer etwas zu intensiv."
Es gibt nicht nur Mischformen zwischen hyper- und hypoaktiv, die AD(H)D-Art kann auch wechseln. "Man kann ein Leben lang als AD(H)D-Mädchen beginnen und dann während der Pubertät hyperaktive Symptome entwickeln," schreibt Neuy-Lobkowicz in ihrem Buch. "Das kann auch umgekehrt sein: von der hyperaktiven Variante zur inattentiven Variante. Wir wissen darum noch nicht warum das ist."
Sozial wünschenswerte Verhalten
Mädchen mit AD(H)D sind oft Opfer von Mobbing, berichtet Astrid Neuy-Lobkowicz. Mädchen versuchen sich anzupassen und nicht hervorzuheben. Sie lernen, in der Schule mitzuhalten, aber haben schnell Schuldgefühle oder ein schlechtes Gewissen, wenn sie es nicht schaffen. "Sie versuchen widersprüchliches Verhalten gegenüber Jungen zu zeigen," schreibt Neuy-Lobkowicz.
Wenn AD(H)D nicht erkannt wird, entwickeln sich oft Angststörungen oder Depressionen, die in der Erwachsenenzeit leicht verhütet werden könnten, dann jedoch zunehmend auffälliger und behandelbar werden. "Dann denkt man nicht mehr an AD(H)D," sagt Neuy-Lobkowicz.
In der Praxis von Matthias Rudolph gab es bereits Frauen, die sich nicht mehr den Anforderungen der Lebensführung stellen konnten. Sie hatten sich aus Angst vor Demenz untersuchen lassen, weil ihre Konzentration und Gedächtnis stark beeinträchtigt waren. Viele kannten es lange heraus, dass "etwas nicht stimmt mit ihnen." "Sie sind oft starke Frauen, die mit 120 bis 140 Prozent Anstrengung etwas anderes erreichen konnten, was andere mit 100 Prozent tun," sagt Rudolph. "Dann lassen die Kräfte auf."
Therapie: Leben besser alltäglich
Eine ADHD-Diagnose kann durch Fachärzte in Neurologie, Psychotherapie, Psychiatrie, Psychosomatik oder psychologischen Psychotherapien gestellt werden. Das erfordert Beweis, dass eine Störung im Kindesalter bestand und in die Erwachsenenzeit überging. Schuleinsätze oder Interviews mit Eltern werden häufig verwendet, um dies zu beweisen.
"Es ist oft schwer, für Frauen nachzuweisen, weil sie so unauffällig verhalten und nichts darüber in den Berichten steht," erklärt Astrid Neuy-Lobkowicz. "Es hängt vom Umfeld ab, in dem die Kinder aufgewachsen sind." Manche Eltern haben die Kinderarbeiten genau überwacht und Fehler korrigiert, was die Störung unsichtbarer macht. "Wenn ein Arzt an AD(H)D vermutet, aber die Ergebnisse der Fragebögen aus der Kindheit unauffällig sind, ist es wert, tiefer zu graben."
Wenn die Diagnose bestätigt wird, besteht die Behandlung aus mehreren Komponenten. Medikamentenbehandlung ist ein wichtiger Bestandteil. Der AD(H)D-Gehirn ist durch ständige Überreizung betroffen, und die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin sind im Umbalance. Behandlung wird oft ergänzt durch Verhaltenstherapie, die auf das bessere Organisieren des Alltags fokussiert. Andere Komponenten können Occupational Therapie, Sport und Selbsthilfegruppen sein.
Zeit-Out statt Burnout
Familienmitglieder können auch ein Unterstützungssystem sein. "Es ist wichtig, sich mit AD(H)D auseinanderzusetzen," sagt Astrid Neuy-Lobkowicz. "Das heißt, die Bedingung zu verstehen und das Verhalten der Betroffenen nicht missverständlich zu interpretieren. Sie sind nicht inattentiv in der Unterhaltung, weil sie nicht interessiert sind, sondern weil ihre Gedanken wegdriften." Frauen mit AD(H)D sind extrem impulsiv und stets verspätet, nicht weil sie nicht kommen wollen, sondern weil sie mit der Zeit schwer zu tun haben. "Wenn man das nicht weiß, ist man leicht verletzlich."
Neuy-Lobkowicz ratiert Disputekonflikte in Beziehungen zu diskutieren, sondern stattdessen eine Pause einzulegen. D.h. aus dem Konfliktumfeld herauszukommen und später ruhig diskutieren. "AD(H)D-Frauen sind wie Mimosas mit einem Holzschläger," sagt Neuy-Lobkowicz, die selbst an ADHD leidet. Sie verbal explodieren gelegentlich, um ihre Welt in Ordnung zu bringen. Aber nur für sich: "Und das ist der Grund, warum Ihnen erklärt werden muss, dass sie Schaden in einer Beziehung anrichten können."
Für die Interaktion empfiehlt Matthias Rudolph: Keine langen Monologe halten, sondern in kurzen, klaren Sätzen sprechen. Es kann wert sein, Sätze in "Habe ich Ihnen korrekt verstanden, dass..." zusammenzufassen. Rudolph empfiehlt die Einrichtung von Feedbackregeln und auf eine ruhige Umgebung während wichtiger Gespräche aufmerksam zu sein.
In der internationalen psychologischen Fachwelt ist die Unzurechnung von ADHD bei Frauen ein dringendes Thema. Viele Betroffene, insbesondere solche aus verschiedenen kulturellen Hintergründen, erhalten möglicherweise keine angemessene Diagnose aufgrund von kulturellen Normen oder Vorstellungen über angemessenes Verhalten für Frauen.
Obwohl ADHD häufig bei Frauen vorkommt, bleibt es in vielen Teilen der Welt oft undiagnotiziert. Dieser Unterschied in Diagnosen zwischen den Geschlechtern und Regionen unterstreicht die Notwendigkeit für mehr Forschung und Aufklärung über die geschlechtsspezifischen Ausprägungen von ADHD und seine Auswirkungen auf das mentale Gesundheit der Frauen.