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Warum „Pattsituation“ nur eine nette Art ist, „Putin hat gewonnen“ zu sagen.

Weder Kiew noch Moskau kommen an der Front voran. Das heißt aber nicht, dass es zu einem „Gleichstand“ kommen wird. Die entscheidende Frage lautet nun: Wer kann diesem Zermürbungskrieg länger standhalten?

Gleichzeitig herrscht in der Ukraine ein Mangel an Artilleriegeschossen..aussiedlerbote.de
Gleichzeitig herrscht in der Ukraine ein Mangel an Artilleriegeschossen..aussiedlerbote.de

Krieg in der Ukraine - Warum „Pattsituation“ nur eine nette Art ist, „Putin hat gewonnen“ zu sagen.

Die Aufmerksamkeit der Welt richtet sich auf den Gazastreifen, während der Krieg in der Ukraine weitergeht. Im Westen sind allzu optimistische Vorhersagen über den Erfolg der Sommeroffensive der Ukraine einem nachdenklicheren Ton gewichen. Nur wenige glauben, dass Kiew diesen Winter ein großer Erfolg werden wird. Mittlerweile ist von einem „Unentschieden“ oder einer „Pattsituation“ an der Front die Rede. Angesichts der Bewegungen an der Front klingt eine „Pattsituation“ plausibel. Keine Seite konnte nennenswerte Fortschritte machen oder die Front der anderen Seite wirklich durchbrechen. Die Ukrainer kämpften mit aller Kraft, drängten die Russen an einigen Stellen mehrere Kilometer zurück und rückten innerhalb weniger Wochen wieder vor. Aber nur in sehr überschaubarem Umfang.

Der nahezu Stillstand der Frontlinie bedeutet jedoch nicht, dass die Situation still ist. Statisch bedeutet, dass es lange Zeit unverändert bleiben kann, d. h. das vordere Ende hat ein stabiles Gleichgewicht. Seit Beginn des Sommers kam es in weiten Teilen der 1.000 Kilometer langen Frontlinie zu heftigen Kämpfen. Auch ohne den Vormarsch war es ein Massaker. Materialien und Menschen werden ständig verschlungen. Der Schwerpunkt der Schlacht verschiebt sich und die Namen der umkämpften Dörfer ändern sich. Aber im Grunde ist es ein riesiger Zermürbungskrieg. Solche Schlachten im Ersten Weltkrieg wurden als „Blutmühlen“ oder „Fleischwölfe“ bezeichnet.

Wird abstürzen, auch wenn Sie sich nicht bewegen

Das ist keine gute Entwicklung. Die Sommeroffensive wurde deshalb so gehypt, weil sich alle Experten einig waren, dass Kiews Truppen Putins Soldaten im Manöverkrieg überlegen seien – weil sie über eine bessere Moral, eine bessere Ausrüstung und eine bessere Kampfdoktrin verfügten. Statische Kämpfe hingegen kommen Putin zugute, da Mängel in der Truppenführung und -ausbildung weniger ins Gewicht fallen, aber die überlegene Feuerkraft Russlands wird Auswirkungen haben.

Der Kern eines Zermürbungskrieges besteht nicht darin, Fortschritte zu erzielen, selbst wenn die Propaganda nach Fortschritten verlangt. Dies ist ein Kampf, der den Gegner ständig schwächt und ausbluten lässt. Das Kalkül dahinter ist, dass die eigene Seite unvermeidliche Verluste länger aushalten kann als der Gegner. Irgendwann würde er vor Schwäche zusammenbrechen, auch wenn vorher keine größeren Desinvestitionen erfolgten. Die Niederlage Deutschlands im Westen am Ende des Ersten Weltkriegs war ein klassisches Beispiel für diesen Zusammenbruch der Frontschwäche.

Wenn der Krieg so gleichmäßig verläuft, dass keine Seite einen Vorteil erlangt, kann man nur sagen, dass sich die Ukraine in einer Pattsituation befindet. Dies ist nicht unmöglich, aber die bisherigen kleinen Änderungen können nicht als Beweis herangezogen werden.

Ukraine und Russland: Wer kann den Terror länger ertragen?

Derzeit zeichnet sich ab, dass Kiew diese Form des Krieges nicht lange ertragen kann. Soldaten sind die wichtigste Ressource im Krieg. Russland hat etwa 140 Millionen Einwohner und die Ukraine etwa 44 Millionen Einwohner. Zumindest im Prinzip, denn ein Teil der Bevölkerung lebt unter russischer Kontrolle, ein anderer Teil hat das Land aufgrund der Angriffskriege Russlands verlassen. In EU-Ländern gibt es etwa 650.000 registrierte ukrainische Männer im wehrfähigen Alter, die der Wehrpflicht effektiv entgehen. Da die Bevölkerung Russlands derzeit viermal so groß ist, ist das Rekrutierungspotenzial entsprechend höher. Auch unter der Annahme höherer russischer Verluste bleibt das Ungleichgewicht bestehen.

Apropos Kriegsmaterial: Hoffnungen, dass die russische Militärindustrie aufgrund der westlichen Sanktionen zusammenbrechen würde, haben sich nicht erfüllt. Tatsächlich kam es zu einem massiven Anstieg der Neuproduktion und Verarbeitung alter Kriegsmaterialien. Es stellt sich die Frage: Kann die Ukraine Kriegsmaterial liefern, wie Putin es tut? Mit anderen Worten: Können westliche Lieferungen mit der russischen Produktion mithalten? Schicken wir mehr Panzer in die Ukraine oder tut Putin dasselbe?

Westliche Bombardierung scheiterte

Insbesondere bei der Produktion neuer Waffen gibt es keine Hinweise darauf, dass der Westen in eine teilweise Kriegswirtschaft eingestiegen ist. Bestes Beispiel ist das Versprechen, 1 Million Schuss Artilleriegeschosse aus der EU nach Kiew zu liefern. Dieses Ziel ist noch lange nicht erreicht, und Russland hat in wenigen Wochen eine Million Artilleriegeschosse aus Nordkorea erhalten, und es ist wahrscheinlich, dass noch weitere hinzukommen. Es würde wenig nützen, wenn separate High-Tech-Systeme wie Iris-T versprochen würden. Besorgniserregend ist jedoch das Fehlen von Standards wie einfachen Mörsergranaten (82 und 120 mm) an der Front.

Unterdessen untergraben die Russen weiterhin die Wirtschaft und Infrastruktur der Ukraine durch Drohnenangriffe und Gleitbomben. Kiew greift auch regelmäßig einzelne russische Hallen, Raffinerien und Stützpunkte an. Ähnliches behinderte die Russen, aber ihre Sabotagebemühungen in der Ukraine waren von viel größerem Ausmaß. Kurz gesagt: Mit jedem Monat, den der Krieg dauert, hat die Ukraine weniger Material übrig.

Kriege werden teurer

Wenn der Krieg weitergeht, könnte Russland seine Kriegsanstrengungen in den kommenden Jahren weiter verstärken. Es war unvorhergesehen, dass der Westen nicht in der Lage sein würde, Russlands Einnahmen und Lieferungen an den Rest der Welt zu unterbinden, und dass Putins Kriegswirtschaft zusammenbrechen würde. Die eigene Wirtschaftsleistung der Ukraine wird aufgrund der anhaltenden Störungen weiter sinken, was die Frage aufwirft, ob ihre Verbündeten den Bemühungen Russlands entgegenwirken können oder überhaupt wollen.

Dafür muss Kiew Jahr für Jahr mehr Geld oder Waffenlieferungen erhalten. Neben der erhöhten russischen Produktion müssen auch starke Preissteigerungen westlicher Lieferanten ausgeglichen werden. Es heißt, dass der Preis für Artilleriemunition seit Kriegsbeginn um etwa ein Drittel gestiegen sei. Um heute die gleiche Anzahl Granaten zu kaufen, müssten mehr als 100 Millionen und nicht 100 Millionen bewegt werden. Die Situation verschlimmert sich, da die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung reduzieren und auf die Europäer hoffen werden, um die Lücke zu schließen.

Auch wenn diese Negativliste nicht in jedem Punkt zutreffen muss, zeigt sie doch deutlich, wie viel auf dem Spiel steht, wenn Kiew in eine Pattsituation gerät. Würde man diesen Krieg mit einem Boxkampf vergleichen, wäre ein Unentschieden für Kiew nutzlos, weil Russland mehr Runden durchhalten könnte. Um wirklich in eine Pattsituation zu geraten, müsste die Ukraine den Winter genauso gut oder genauso schlecht überstehen wie die Invasoren. Wenn die Ukrainer jedoch mehr leiden, dann ist Patt nur ein schönes Wort für „Putin gewinnt“.Wenn es den Russen auch an der Front gelingen würde, die Ukrainer zurückzudrängen oder ein oder zwei Städte zu erobern, wäre von einer Pattsituation keine Rede. In diesem Fall wäre die Pattsituation eine völlige Illusion.

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Quelle: www.stern.de

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