Im Gazastreifen herrscht unter der palästinensischen Bevölkerung Angst und Verzweiflung angesichts einer drohenden Bodenoffensive der Israelis gegen die islamistische Hamas.
Nach Ablauf einer vom israelischen Militär gesetzten Frist zur Massenevakuierung des nördlichen Gazastreifens befürchten die Vereinten Nationen eine «katastrophale Situation», sollte die Armee in das dicht besiedelte Küstengebiet einmarschieren. Augenzeugen berichteten von Panik unter der Bevölkerung. Die UN forderten Israel auf, die Anweisung zur Evakuierung der etwa 1,1 Millionen Menschen zu widerrufen. UN-Generalsekretär António Guterres forderte sofortigen Zugang zum Gazastreifen für humanitäre Hilfe. «Auch Kriege haben Regeln», betonte er gestern in New York.
Menschen auf der Flucht
Menschen in Autos machten sich auf Lastwagen, mit Eselskarren und zu Fuß auf der einzigen Hauptstraße des Gebiets Richtung Süden auf. Die im Gazastreifen herrschende Hamas versuchte, fliehende Zivilisten davon abzuhalten, dem israelischen Aufruf zur Räumung des Nordens zu folgen. Sie sollten nicht auf die «Propagandanachrichten» reinfallen, hieß es.
Laut Hamas-Angaben sollen Luftangriffe der israelischen Streitkräfte 70 Menschen auf der Flucht in den Süden des Gazastreifens getötet und 200 weitere verletzt haben. Die meisten Opfer seien Kinder und Frauen, erklärte gestern ein Sprecher der Islamistenorganisation. Drei Konvois seien bei dem «Massaker» getroffen worden. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Vom israelischen Militär gab es keine Bestätigung. Die Berichte würden geprüft, hieß es dort.
Israelische Geiseln tot gefunden
Israels Militär flog unterdessen weitere Bombenangriffe auf Hamas-Ziele und unternahm zudem erste begrenzte Vorstöße in den Gazastreifen. Dabei hätten die Soldaten gestern Abend Leichen vermisster Landsleute entdeckt, berichtete die Zeitung «Jerusalem Post» am frühen Morgen. Angaben zur Anzahl der Toten gab es zunächst nicht. Laut einem israelischen Armeesprecher sei Ziel dieser Einsätze, «das Gebiet von Terroristen und Waffen zu säubern». Dabei habe man auch versucht, Vermisste zu finden. Boden- und Panzertruppen hätten nach Spuren gesucht und «Terrorzellen ausgeschaltet».
Nach Angaben des militärischen Arms der Hamas sollen 13 der rund 150 aus Israel verschleppten Geiseln bei den israelischen Luftangriffen auf das Küstengebiet getötet worden sein. Darunter seien auch ausländische Staatsangehörige, behaupteten die Al-Kassam-Brigaden. Auch dies konnte nicht unabhängig überprüft werden. Israels Armee wollte dem Bericht nach eigenen Angaben nachgehen.
Netanjahu: erst der Anfang der Offensive gegen Hamas
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bezeichnete die derzeitigen Gegenangriffe im Gazastreifen nach dem Hamas-Terror mit Hunderten getöteten Israelis nur als «Anfang» der Offensive gegen die militanten Islamisten. «Wir werden die Hamas zerstören und gewinnen, aber es wird Zeit brauchen», sagte er gestern Abend in einer Ansprache an die Nation. «Unsere Feinde haben gerade erst begonnen, den Preis zu zahlen. Ich werde unsere Pläne nicht näher erläutern, aber ich sage Ihnen, das ist erst der Anfang.» Das jüdische Volk habe seit Jahrzehnten nicht mehr solche Schrecken erlebt, so Netanjahu.
Terroristen im Auftrag der Hamas hatten am Samstag vergangener Woche ein Massaker unter israelischen Zivilisten in Grenzorten und auf einem Musikfestival angerichtet – das schlimmste seit Israels Staatsgründung. Mehr als 1300 Menschen kamen dabei ums Leben. Die Zahl der bei den israelischen Gegenangriffen getöteten Palästinenser im Gazastreifen gab das dortige Gesundheitsministerium gestern Abend mit mindestens 1900 an. Darunter seien 614 Kinder und Jugendliche. Mindestens 7696 Menschen wurden demnach verletzt.
Kritik an Israels Evakuierungsaufruf
Saudi-Arabien und Ägypten kritisierten den Aufruf des israelischen Militärs zur Massenevakuierung des nördlichen Gazastreifens. Saudi-Arabien lehne die «Zwangsumsiedlung» ab, teilte das Außenministerium gestern mit. Alle Formen der militärischen Eskalation, die sich gegen Zivilisten richteten, müssten gestoppt werden. Das ägyptische Außenministerium verurteilte die Anweisung zur Evakuierung der Gaza-Einwohner als «schwerwiegende Verletzung der Regeln des humanitären Völkerrechts».
Biden zeigt sich besorgt über humanitäre Lage der Palästinenser
US-Präsident Joe Biden versicherte Israel erneut die Solidarität der Vereinigten Staaten, äußerte sich aber auch besorgt zur Lage im Gazastreifen. «Wir dürfen die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass die überwältigende Mehrheit der Palästinenser nichts mit Hamas oder den abstoßenden Attacken der Hamas zu tun hat und dass sie in der Folge auch leiden», sagte Biden gestern.
Baerbock zu Gesprächen in Ägypten
Außenministerin Annalena Baerbock hält sich zur Fortsetzung ihrer Krisengespräche im Nahen Osten in Ägypten auf. Nach Angaben aus dem Auswärtigen Amt wollte sich die Grünen-Politikerin heute Mittag in der Hauptstadt Kairo mit Außenminister Samih Schukri treffen. Aus Delegationskreisen hieß es, neben der regionalen Lage nach den Hamas-Angriffen auf Israel würden bei den Gesprächen in Ägypten auch die Bemühungen um die Freilassung der von den Islamisten nach Gaza verschleppten Geiseln im Mittelpunkt stehen.