Kultur - Gefährdetes Erbe: Archivdokumente zur ukrainischen Architektur
Trümmerberge, zerschmetterte Kuppeln, zerstörte Säulen und beschädigte Gemälde – wer nach dem Bombenangriff Fotos der berühmten Verklärungskathedrale in der Altstadt von Odessa gesehen hat, wird die russische Invasion in der Ukraine mit aller zerstörerischer Kraft erleben. Der berühmte orthodoxe Dom, eines der berühmtesten seiner historischen Gebäude, wurde im Rahmen eines von Marburg und Hannover betreuten Projekts über ein Jahr lang fotografiert und dokumentiert. Ihre Zerstörung „treffe das Herz der Kulturnation Ukraine“, sagte Christian Bracht, Leiter des Deutschen Kunsthistorischen Dokumentationszentrums (DDK) – Fotoarchiv Marburg, einer deutschen Nachrichtenagentur.
Seit mehr als einem Jahr arbeitet das DDK zusammen mit Wissenschaftlern um Ina Blümel vom Leibniz-Zentrum für Technik- und Naturinformatik (TIB) und mittlerweile 17 ukrainischen Fotografen an dem Projekt, solch außergewöhnliche Bauwerke fotografisch festzuhalten und zu dokumentieren . Wie Bracht sagt, reichen historische Vorbilder dieser Tätigkeit bis in den Ersten und Zweiten Weltkrieg zurück, als auch kulturell bedeutsame Gebäude gezielt zerstört wurden. Damals wurden auch Fotografen entsandt, um Baudenkmäler zu fotografieren und diese mit Scheinlisten zeitgemäß zu beschreiben. In der Zwischenkriegszeit übernahm die DDK selbst diese Aufgabe im Auftrag der deutschen Militärregierung in Ländern wie Belgien, Frankreich und den baltischen Staaten.
Die zunehmenden Schäden an den historischen Gebäuden der Ukraine zeigen die Brisanz und Bedeutung des aktuellen Projekts zur „Dokumentation des ukrainischen Kulturerbes“. Bisher haben Fotografen vor Ort rund 250 möglicherweise vom Krieg bedrohte Gebäude in den Städten Kiew, Odessa, Nikolaev und Zaporozhye dokumentiert und dabei insgesamt 3.700 Außen- und Innenaufnahmen gemacht.Bracht sagte, es sei unklar, wie viele von ihnen zerstört worden seien, aber es sei absehbar, dass ihre Zahl zunehmen würde, ohne dass ein Ende des Krieges in Sicht sei. Deshalb wünschen sich Wissenschaftler eine langfristige Finanzierung des Projekts und nicht wie bisher eine durchschnittliche Drei-Monats-Finanzierung. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten bis Ende 2023 gefördert.
Gleichzeitig wollte Bracht die dokumentierten Strukturen nicht benennen – man wollte den russischen Aggressoren nicht die Möglichkeit geben, „sozusagen eine Militärkarte daraus zu konstruieren, um deren Ziele planen zu können.“ der Angriff." Angesichts der russischen Angriffe wurden die Arbeiten unter gefährlichen und schwierigen Bedingungen durchgeführt und vor Ort von einem ukrainischen Wissenschaftler koordiniert. Wie Bracht beschreibt, hatten die Beteiligten im Land zusätzlich zu den Bombenanschlägen immer wieder mit Stromausfällen zu kämpfen, die längere Unterbrechungen bei der Bildbearbeitung in digitalen Fotolaboren oder beim Hochladen ins Internet erforderlich machten.
Die Aufnahmen werden mit Digitalkameras und Spezialobjektiven erstellt; die technischen Prüfmethoden von DDK gewährleisten professionelle Qualität. Gebäude und deren Ausstattung werden nach wissenschaftlichen und technischen Standards in einer Datenbank gespeichert. Die Langzeitspeicherung der Bilder und Daten erfolgt dann auf Serversystemen im Universitätsrechenzentrum der Philipps-Universität Marburg. Wenn ein Gebäude zerstört wird, soll das Bild als solide Grundlage für den Wiederaufbau, als wissenschaftliche Aufzeichnung und als kulturelles Gedächtnis dienen.
Ein weiterer Kernbestandteil des Projekts ist die spezielle Open-Source-Software Wikibase, die es Bürgern, Aktivisten und Fotografen vor Ort ermöglicht, zur langfristigen Notfalldokumentation des Gebäudes beizutragen. Verantwortlich für diesen Teil des Projekts ist Blümels Team am TIB Hannover Open Science Laboratory. Die Fotos und zugehörigen Daten werden dann ins Internet gestellt, als eine Art „nationales Denkmalportal“, wie Bracht es ausdrückt. Aus den oben genannten Gründen sollte dies jedoch erst nach Kriegsende geschehen. Kulturell bedeutsame Bauwerke sind gefährdete Ziele für Kriegsgegner, die die kulturelle Identität eines Landes und seiner Menschen explizit in Frage stellen und angreifen.
Auch das Skeiron-Projekt ukrainischer Architekten verfolgt ähnliche Ziele wie Wissenschaftler in Marburg und Hannover. Das Team nutzte moderne Technologie, um digitale Nachbildungen ukrainischer Architekturdenkmäler zu erstellen. Zehn grafisch komplexe und virtuell begehbare Modelle wurden kürzlich in einer Ausstellung im Architekturarchiv NRW in Dortmund präsentiert. Dazu gehört die neugotische St.-Johannes-Kirche. Nikolaus-Kathedrale in Kiew, die monumentale Mariä-Verkündigungs-Kathedrale in Charkow und das teilweise zerstörte Flughafengebäude in Donezk.
Wie die Organisation auf ihrer Homepage schreibt, zielt das im März 2022 gestartete Projekt darauf ab, das architektonische und künstlerische Erbe der Ukraine zu bewahren und die Erinnerung vor den schädlichen Auswirkungen der Zeit zu schützen. Das digitale Modell soll bei Bedarf auch eine spätere Rekonstruktion des Gebäudes ermöglichen. Ein Sprecher des Architekturarchivs NRW sagte, die Ausstellung habe große Aufmerksamkeit erregt und Besucher könnten mithilfe von QR-Codes virtuell in die Gebäude eintauchen. Ziel ist es nicht nur, die ukrainische Architektengemeinschaft zu unterstützen, sondern auch das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass der Krieg auch das kulturelle Erbe Europas bedroht.
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Quelle: www.stern.de