Die Tausenden Toten nach den Beben im Südosten der Türkei und Syrien sind für Istanbul eine grausame Vorwarnung. «Ein Beben dort mit einer Magnitude von bis zu 7,4 ist überfällig», sagt Marco Bohnhoff vom Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) Potsdam.
In der Megacity leben nach offiziellen Angaben 16 Millionen Menschen, nach inoffiziellen Schätzungen sogar 20 Millionen. Es gebe rund 1,6 Millionen alte, nicht erdbebensicher gebaute Gebäude, erklärt Nusret Suna von der Istanbuler Bauingenieurskammer. «Das ist eine unglaublich hohe Zahl.»
Nächstes großes Beben ist überfällig
Die Türkei liegt in einer der seismisch aktivsten Gegenden der Welt. Ein Beben käme auch in der Region Istanbul – dem am dichtesten besiedelten Gebiet des Landes – alles andere als überraschend. Zwar habe sich die Situation für Istanbul durch die Beben im Südosten nicht verändert, das Risiko für die Metropole sei aber generell ähnlich hoch wie bei der aktuell betroffenen Region, erklärt GFZ-Experte Bohnhoff. Die mittlere Wiederkehrperiode für ein großes Beben liege für Istanbul bei 250 Jahren. Das letzte große Beben habe 1766 stattgefunden – das nächste sei also überfällig.
Die Region ist Teil des Nordanatolischen Verwerfungssystems, einer großen tektonischen Plattengrenze, die für zerstörerische Erdbeben mit vielen Opfern bekannt ist, wie es vom GFZ heißt. Der Hauptarm der Verwerfung verlaufe nur 20 Kilometer südlich von Istanbul unterhalb des Marmarameeres, sagt Bohnhoff. «Ein großes Beben hätte also verheerende Auswirkungen.»
In den vergangenen Jahrzehnten wanderten die Beben demnach entlang der Plattengrenze bereits immer mehr auf Istanbul zu. Am bisher nächsten lag das Erdbeben nahe der 80 Kilometer entfernten Stadt Izmit im Jahr 1999, bei dem mehr als 17.000 Menschen starben. «Der Bereich unterhalb des Marmarameeres ist der einzige seit mehr als 250 Jahren nicht aktivierte Bereich der gesamten Nordanatolischen Plattengrenze», so Bohnhoff. Vieles deute darauf hin, dass dieser Bereich schon seit langem verhakt ist und große Spannung aufgebaut hat.
Stadt auf weichem Untergrund gebaut
Hinzu kommt, dass die Stadt auf ungünstigem Untergrund fußt: Der südwestliche Teil liege leider nicht auf festem Grund wie Granit, sondern auf einer ausgetrockneten Lagune, erklärt Bohnhoff. «Auf weichem Untergrund kann es zu starken Verstärkungen der Bodenbewegungen kommen, teilweise zusammen mit Verflüssigungseffekten.» Beides sorge für schlimmere Schäden. In dem Bereich liege unter anderem der internationale Flughafen, so dass nach einem Beben das Einfliegen von Rettungskräften erschwert sein könnte.
Bekannt sind all diese Risiken und Effekte auch in der Türkei – an Vorsorge getan hat sich bisher allerdings furchtbar wenig, wie Nusret Suna von der Bauingenieurskammer sagt. «Die Theorie wurde nicht in die Praxis umgesetzt.» Die Behörden hätten versäumt, alte Häuser erdbebensicher zu sanieren, kritisiert Suna. Und selbst Gebäude, die nach 1999 gebaut wurden, seien trotz entsprechender danach eingeführter Regularien oft nicht sicher. Architekten, Bauunternehmen und andere Verantwortliche ignorierten häufig «ethische Prinzipien und moralische Werte» und agierten von Profitgier getrieben. Mit entsprechend katastrophalen Folgen sei für Istanbul zu rechnen.
Auf frühzeitigen Alarm über Frühwarnsysteme kann die Stadt nicht setzen. «Eine Erdbebenfrühwarnung für Istanbul ist aufgrund der geringen Entfernung zur Plattengrenze extrem schwierig», erklärt Bohnhoff. «Die Warnzeit beträgt im besten Fall nur wenige Sekunden.»
Der einzige Weg sei, die Gebäude der Metropole so schnell wie möglich erdbebensicherer zu machen, sagt Suna. «Wenn wir gleich morgen anfangen, können wir immer noch Menschenleben retten.» Denn auch wenn sich Zeit und Stärke nicht genau vorhersagen lassen: Das große Beben von Istanbul kommt GFZ-Experte Bohnhoff zufolge ganz sicher. Es ist nur eine Frage der Zeit.