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Ein russischer Deutscher im Dienst des russischen Zaren: Fjodor Tjuttschew

Heute wäre Fjodor Tjuttschew 220 Jahre alt. Er ist bekannt als Dichter, aber er selbst schätzte seine Gedichte nicht.

Ein russischer Deutscher im Dienst des russischen Zaren: Fjodor Tjuttschew | Foto: S. Levitsky, 1867

Tjuttschew lebte 23 Jahre in Bayern, heiratete hier zweimal deutsche Aristokratinnen, die ihm eine Menge Kinder schenkten, wurde jedoch nach seiner Rückkehr in die historische Heimat ein verärgerter Kritiker Europas und Ideologe eines besonderen Weges Russlands unter dem russischen Zaren. Wie kam es dazu?

Lesen Sie auf Russisch: Федор Тютчев: русский немец на службе у русского царя

Persönliche Umstände

Ein talentierter und adliger junger Mann, der die Moskauer Universität absolvierte, ging 1821 durch die Protektion eines Verwandten in diplomatischer Mission nach München. Er wurde zum außeretatmäßigen Attaché ernannt: eine so lala Position, aber immerhin nicht in irgendeinem walachischen Hinterland.

Tjuttschew schrieb Gedichte auf Russisch, lebte aber hauptsächlich auf Französisch. Er lernte den in München lebenden Philosophen Schelling und den Dichter Heine kennen. Wahrscheinlich hat er sich von Schelling das Philosophieren angesteckt, das nicht unbedingt lebenspraktische Umstände berücksichtigen muss. In diesem Sinne war seine Denkweise rein deutsch, abstrahierend und konzeptionell.

Reine Theoretisierung à la Tjuttschew brachte, wie wir sehen werden, paradoxe Früchte hervor.

Auch hatte er eine Affäre mit der unehelichen Tochter des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III – Amalie Lerchenfeld. Aber, wie man schreibt, reichte die gegenseitige Sympathie nicht aus. Amalies Verwandte widersetzten sich, sie wurde mit dem Sekretär der russischen diplomatischen Mission, Baron Alexander Krüdener, verheiratet.

1826 heiratete Tjuttschew Eleonore Peterson, geborene Gräfin Botmer, Witwe eines russischen Diplomaten. Sie heirateten bei den Lutheranern und in der orthodoxen Kirche. Für ihn verzichtete sie faktisch auf ihre drei Kinder von ihrem früheren Mann, die in Petersburg an die Verwandten ihres Ex-Mannes gegeben wurden.

Элеонора Петерсон.  Фото: wikipedia.org
Eleonora Peterson. Foto: wikipedia.org

Von Eleonore hat Tjuttschew drei Töchter und ein Familienleben, das mit deutscher Gründlichkeit eingerichtet wurde. Aber das hinderte ihn nicht an einer leidenschaftlichen Affäre mit Baroness Ernestine von Pfeffel. Eleonores Gefühle diesbezüglich kümmerten ihn nicht allzu sehr. Auch nicht die Heirat von Ernestine, die in der Ehe zur Frau Dernberg wurde.

Der Höhepunkt ereignete sich 1838. Das Dampfschiff „Nikolai I“, auf dem die Familie Tjuttschew von Petersburg nach Turin reiste, fing Feuer und sank in der Ostsee. Alle wurden gerettet, aber Eleonore starb bald an einer Erkältung im Alter von 37 Jahren. Man schreibt, dass Tjuttschew schrecklich betrübt war. Der Legende nach ergraute er in der Nacht, die er am Sarg seiner verstorbenen Frau verbrachte.

Ein Jahr später heiratete Tjuttschew Ernestine, eine verwitwete Aristokratin. Sie heirateten erneut sowohl in der katholischen als auch in der orthodoxen Kirche. Für Ernestine gab Tjuttschew seine diplomatische Karriere auf. Er wurde wegen langer eigenmächtiger Abwesenheit aufgrund der Heirat aus dem Dienst entlassen. Daher diente er nicht lange in Turin und kehrte als Privatperson nach München zurück. Sie lebten von den Mitteln seiner Frau. In dieser Ehe wurden noch eine Tochter und zwei Söhne geboren.

In der heutigen Zeit wäre es an der Zeit, auch die Staatsbürgerschaft Bayerns zu beantragen.

Aber in jenen glücklichen Zeiten kümmerte man sich nicht darum.

Einige Jahre verstrichen in Muße und Kreativität. Aber in dieser Zeit reiften bei Tjuttschew Ideen.

Gegen Astolphe de Custine

Man kann annehmen, dass er stark verärgert war über den literarischen Sensationserfolg in Europa jener Zeit, Astolphe de Custines Buch „Russland im Jahr 1839“. Es stellte das russische Leben und die russische Macht sehr unvorteilhaft dar.

In Russland verursachte es solche Verwirrung, dass die russischen Behörden eine ganze Gegenpropagandakampagne starteten. Im Auftrag der Gendarmerie veröffentlichten mehrere russische Autoren in Frankreich kritische Rezensionen des Buches. Sie organisierten einen gut koordinierten Aufruf, möglicherweise gut bezahlt. Diese Rezensionen waren natürlich für Europäer bestimmt. Dem russischen Leser blieben sie unbekannt, und das Buch selbst wurde nach Russland geschmuggelt. Manche mochten es, sprachen aber nicht öffentlich darüber, während viele in St. Petersburg und Moskau den Autor öffentlich verurteilten.

Книга Астольфа де Кюстина «Россия в 1839 году». Фото: shopwillowbrook.com
Astolphe de Custines Buch „Russland im Jahr 1839“. Foto: shopwillowbrook.com

Tjuttschew beschloss in München, darauf zu antworten. Er schrieb (natürlich auf Französisch) einen Brief an den Redakteur der Allgemeine Zeitung in Augsburg, Gustav Kolb. Die Zeitung hatte einen anerkannten Weltruf. Aber Kolb, scheint es, wollte den Brief des russischen Deutschen nicht veröffentlichen. Er erschien anonym als separate Ausgabe. Nicht ohne Grund.

In diesem Brief erschien Tjuttschew als Apologet der Russlands und Kritiker des Westens. Möglicherweise war der deutsche Journalist über die extrem scharfe Ausdrucksweise des patriotischen Gefühls verwirrt.

Aber typisch ist die Denkweise Tjuttschews. Er beginnt mit der These der gegenseitigen Komplementarität der deutschen Staaten und Russlands. Freundschaft, aufrichtige Übereinstimmung - das ist die Atmosphäre dieser Nähe. Die weisen deutschen Herrscher pflegen diese Freundschaft gut. Aber sie werden durch eine instabile öffentliche Meinung behindert. Tjuttschew deutet an, dass es an der Zeit ist, dieser Meinung eine andere Richtung zu geben, sie in Richtung Sympathie für den östlichen Nachbarn zu drehen.

Im Bündnis mit Russland sind die deutschen Staaten stark. Ohne dieses Bündnis könnten sie gegen Frankreich, den gefährlichen westlichen Nachbarn, unterliegen. Russland hat den deutschen Ländern bereits geholfen, die „historische Legitimität“ gegen die Revolution, gegen „politische Experimente“ zu behaupten. Und ist bereit, dies weiterhin zu tun. Aber als Antwort hört man in der deutschen Presse nur Schmähungen. Das ist nicht gut.

Ein russischer Deutscher im Dienst des russischen Zaren

Tjuttschew betont, dass er den Brief als rein private Person schreibt. Kurz zuvor hatte er sich jedoch mit dem allmächtigen Chef der Dritten Abteilung der Eigenen Seiner Kaiserlichen Majestät Kanzlei, Benckendorff, in seinem Anwesen bei Reval, heute Tallinn, getroffen und sich zumindest die Unterstützung des einflussreichen Zarenhofs gesichert. Kein Wunder also, dass die Broschüre mit Tjuttschews Brief an Kolb schnell auf den Tisch von Nikolaus I. gelangte. Tjuttschew schrieb bald seinen Eltern, dass der Kaiser „darin all seine Gedanken fand und sich anscheinend erkundigte, wer der Autor sei“.

Zeit, nach Russland zurückzukehren. Tjuttschew kehrte mit seiner ganzen Familie in die Heimat zurück.

Dabei zog ihn die Heimat als solche nicht besonders an. Eher lockten ihn die Karriere und die politische Utopie Russlands als Eisberg, der der europäischen Dekadenz entgegenwirkt.

„So sehe ich euch wieder, ihr unliebsamen, aber heimatlichen Orte“.

Und er sehnt sich nach Deutschland:

„Ich erinnere mich an das mir liebe Land...“

Iwan Aksakow, der mit Tjuttschews Tochter verheiratet war und zum ersten Biographen wurde, erklärte dies so:

„Die Liebe zum russischen Volk ertrug das Leben von Angesicht zu Angesicht mit ihm nicht... Im Ausland, in der deutschen oder italienischen Ferne, erschien Russland Fjodor Iwanowitsch nicht in Details und Besonderheiten, sondern in seiner allgemeinen Bedeutung... Ähnlich setzte er sein Betrachten Russlands in Russland fort, ohne das Bedürfnis nach engerem Kontakt mit der russischen Realität zu haben.“

Doch die Karriere verlief erfolgreich. Der merkwürdige außeretatmäßige Status ist vergessen. Ein russischer Deutscher im Dienst des russischen Zaren: Tjuttschew tritt erneut in das Außenministerium ein, wo er ab 1848 die Position des leitenden Zensors bekleidet. Und er schreibt Traktate über das tausendjährige Reich Russland, umhüllt von imperialer Herrlichkeit und zur orthodoxen Festung geworden.

In der „modernen Welt“ sieht Tjuttschew nur zwei Kräfte: das revolutionäre Europa und das konservative Russland. Auf die deutschen Staaten setzt er anscheinend nicht mehr viel Vertrauen und schlägt vor, einen Bund der slawisch-orthodoxen Staaten unter der Ägide Russlands zu bilden. Und dann von Osten her Druck auf Europa auszuüben, um die Keime der Revolutionen, die übrigens gerade in den späten 40er Jahren überall präsent waren, auszurotten.

Dann kam der Krimkrieg, und er hält sich nicht mehr zurück (diesmal jedoch in streng privater Korrespondenz mit seiner in Deutschland kurierten Frau; auf Französisch):

„Schon lange hätte man voraussehen können, dass dieser wütende Hass – wie der Hass eines Hundes gegen die Leine –, der Hass, der sich dreißig Jahre lang, von Jahr zu Jahr immer stärker gegen Russland im Westen entflammte, irgendwann von der Kette springt. Dieser Moment ist gekommen. Das, was offiziell als Russland bezeichnet wurde – egal was es tat, um das verhängnisvolle Schicksal abzuwenden: wedelte, handelte, verbarg seine Fahne, verleugnete sogar sein eigenes Selbst –, nichts half. Es kam der Tag, an dem man von ihm noch deutlichere Beweise seiner Mäßigung forderte, ihm schlicht und einfach Selbstmord vorschlug, den Verzicht auf das Wesen seines Seins, die feierliche Anerkennung, dass es in der Welt nichts anderes als eine wilde und hässliche Erscheinung sei, ein Übel, das der Korrektur bedarf.“

Tjuttschews Karriere wird weder durch die Niederlage im Krieg noch durch den Tod von Nikolaus I., den viele für den Selbstmord eines historischen Bankrotteurs halten, beeinträchtigt.

Im Jahr 1858 wurde er auf einen verantwortungsvollen Posten berufen: als Vorsitzender des Komitees für ausländische Zensur. Und er blieb bis zu seinem Tod in dieser Position. Im Jahr 1865 wurde Tjuttschew zum Geheimrat ernannt.

Was ist mit Europa?

Europa beschäftigt ihn ununterbrochen. Sterbend, in Agonie, interessiert er sich nicht für das Leben der Bauern in Brjansk. Bis zum Schluss interessierte sich Tjuttschew für die politische Situation in Europa.

Die Ursache seines Todes war ein Schlaganfall. Im Dezember 1872 verlor er die Bewegungsfreiheit seines linken Arms und fast sein Sehvermögen. Nach dem zweiten Schlaganfall am 11. Mai kam Tjuttschew lange nicht zu Bewusstsein. Es schien, als wäre er gestorben. Doch er kam zu sich und fragte mit kaum hörbarer Stimme: „Was sind die neuesten politischen Nachrichten?“

In Europa zeichnete sich eine Börsenkrise ab, in Kokand rebellierten die Usbeken.

Nach Tjuttschews Tod stellte sich heraus: Neben seiner allgemein bekannten späten Romanze mit Jelena Denissjewa (die Früchte dieser Liebe – eine Tochter und zwei Söhne), hatte er parallel eine inoffizielle Verbindung mit der Deutschen Hortensia Lapp, die er eigens aus Deutschland geholt hatte. Sie gebar ihm zwei Söhne. Und gerade ihr vermachte er seine Pension.

Елена Денисьева.  Фото: cs6.livemaster.ru
Elena Denisieva. Foto: cs6.livemaster.ru.

Verletzter Stolz

Natürlich, wäre damals Custine nicht gewesen, hätte es vielleicht auch Tjuttschew als Sänger des Imperiums nicht gegeben.

Dennoch will und kann Tjuttschew sich nicht gegen den europäischen Lebensstil, die europäische Zivilisation wehren. Mental und im Alltagsleben ist er eher Deutscher. Ein Zeitgenosse sagt über ihn:

„Ein reinblütiges Produkt des Europäismus, ohne irgendein Mal irgendeiner Nationalität auf sich. In ihm atmete alles, bis zum letzten Gelenk und Nerv, die Anmut einer nicht-russischen Kultur!“

Die Armseligkeit des russischen Lebens jenseits von Petersburg stößt ihn ab. „In Russland sind Kanzlei und Kaserne. Alles bewegt sich um die Peitsche und den Rang“. Über den russischen Menschen aus Kasan und Samara will er nichts wissen. Er träumt davon, staatliche Macht zu sammeln (unter Beteiligung der „slawischen Brüder“ und deutschen Cousins) – und unter der Ägide des russischen Zaren unerschütterliche Ruhe in Europa (und in der Welt insgesamt) zu etablieren. Obwohl er selbst nicht sehr überzeugt von den Perspektiven Russlands als Staat ist – und darin nicht getäuscht wurde.

Zweihundert Jahre später scheint sein grandioser Aberglaube manchmal allzu aktuell. Aber wir lieben Tjuttschew nicht deshalb. Wir lieben ihn für seine Gedichte, in denen sich das Drama des Menschen entfaltet, der den leichten Glauben verloren hat und allein mit einer leeren und kalten Welt zurückbleibt. Und dann noch schlechte Nachrichten aus Europa, das gegen das Nordimperium intrigiert. Die Nacht des Russischen Rom naht.

Er starb vor 150 Jahren. Die Kulissen haben sich geändert. Neue russische Phantasten verkünden staatliche Größe.

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