- Nach dem Wunsch der Bundesregierung soll das Einkommen der über 5 Millionen Bürgerhilfeempfänger in Deutschland bis zum 1. Januar 2024 im Schnitt um etwa 12 % steigen – bis dahin erhält ein Alleinstehender 563 Euro. Sowohl CDU-Chef Friedrich Merz als auch CSU-Chef Markus Söder halten den Anstieg für zu hoch. Doch das Wachstum sei unumkehrbar, sagte Ökonom Andreas Peichl in einem Interview.
„Die Rente wird die richtige Stellschraube sein“
Deutschland steht vor einer Haushaltskrise. Die Gewerkschaften und Liberaldemokraten lösen dieses Problem lieber durch Einsparungen bei den Sozialleistungen. Sie haben viel über Ungleichheit geforscht. Aus Ihrer Sicht: Sind diese Anfragen für Sie relevant oder sinnvoll?
Andreas Peichl: Es ist eine politische Frage, was man erreichen will. Aus wirtschaftlicher Sicht halte ich es jedoch für einfach falsch, Geld für die Schwächsten in der Gesellschaft zu sparen. Der Hebel ist viel geringer als viele denken.
Warum?
Reden wir über Bürgergeld…
...Markus Söder forderte den „Stern“ einmal auf, „die Erhöhung der Bürgerleistungen zu verschieben und bei Null anzufangen“...
Ja. Auf den ersten Blick stellt er durchaus berechtigt die Frage, warum der Anstieg im nächsten Jahr mit 61 Euro so hoch ausfällt. Aber es ist leicht zu erklären, und wenn man sich in die Details vertieft, wird man schnell verstehen, warum es nicht so einfach verschoben oder zurückgesetzt werden kann.
Im Augenblick?
Für den Anstieg gibt es zwei Gründe: Erstens war die Inflation im vergangenen Jahr hoch. Andererseits wirken sich Änderungen in der Berechnung des Existenzminimums nicht nur auf den Bürgerfreibetrag, sondern auch auf den Kinderfreibetrag sowie den Kinderfreibetrag bzw. Grundfreibetrag in der Einkommensteuer aus. Die Berechnung erfolgt auf gesetzlicher Grundlage und basiert auf Daten, die alle fünf Jahre erhoben werden – Mikrodaten aus Einkommens- und Verbraucherstichproben. Gleichzeitig werden die Werte auf Basis eines Mischindex aus 70 % Inflation und 30 % Nettolohnentwicklung aktualisiert. Die Bundesregierung kann diesen Ansatz nicht einfach ignorieren.
Aber die Inflation ist in letzter Zeit gesunken.
Ja, das wird der einzige Punkt sein, an dem es kurzfristig losgehen kann. Sie müssen jedoch Inflationsprognosen und keine Aktualisierungen verwenden (die derzeit das Doppelte der in der Vergangenheit hohen Inflationsrate berücksichtigen). Dies erfordert jedoch eine Neuanpassung der Berechnungsregeln. Die Sommerberechnungen gehen natürlich davon aus, dass die Inflation längerfristig höher sein wird. Würde man die Berechnungen noch einmal anhand aktueller Inflationsprognosen und nicht anhand von Aktualisierungen neu berechnen, wäre der Anstieg um 61 Euro mit Sicherheit nicht eingetreten. Aber null Euro wird es nicht geben.
ganz?
Es ist schwer, es zu sagen. Wir sprechen hier von Einsparungen von bis zu einer Milliarde Euro. Damit wird die Lücke von 17 Milliarden Euro natürlich nicht geschlossen.
Mit anderen Worten: Der deutsche Haushalt ist wegen des Geldes der Bürger ungesund?
Nein auf keinen Fall. Man muss einen ganz anderen Topf anfassen.
Wo können kurzfristig und minimalinvasiv Einsparungen erzielt werden? Ist das bei den Sozialausgaben möglich?
Minimalinvasive Politik und Sozialpolitik schließen sich gewissermaßen gegenseitig aus. Kritischer ist die Kurzfristigkeit. Existenzsicherung ist für mich nicht möglich, weil sie durch Steuern und die Verfassung geschützt ist. Gleiches gilt für die Abschaffung der Ehegattentrennung oder der Fahrtkostenzulage. Dies würde zwar zusätzliche Einnahmen bringen, beide sind jedoch zumindest teilweise durch die Verfassung geschützt.
Wie wäre es mit Dienstwagenprivilegien?
Ja, es wäre einfacher umzusetzen, da es keine verfassungsrechtlichen Probleme gäbe.
Wo sonst können Sie anfangen?
Aus sozial- und finanzpolitischer Sicht ist die Besteuerung am wahrscheinlichsten. Fehlt dem Staat das Geld, kann er die Einkommens- oder Mehrwertsteuer erhöhen. Das wird natürlich, wie derzeit auch in der Gastronomie, für viele Diskussionen sorgen. Aber formal ist es eine relativ einfache Wahl.
Davon ist insbesondere die Erwerbsbevölkerung betroffen. Ist das fair?
Wenn also ein Teil des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes entfällt, wirkt sich das auf den Konsum aller aus.
Sie sagen, wir haben kein Einnahmeproblem, sondern ein Ausgabenproblem. Hier sind zwei Beispiele für zusätzliches Einkommen. Wo kann man Geld sparen?
Sie können sofort in Rente gehen. 63-Jahres-Rente, Grundrente, Mütterrente – das sind alles Themen, die bei steigender Lebenserwartung diskutiert werden können. Möglicherweise waren wir in der Vergangenheit nicht in der Lage, über die Runden zu kommen. Das wird also die richtige Einstellschraube sein.
Aber kurzfristig gibt es doch nichts, womit man anfangen könnte, oder? Ja, das sind Kostenblöcke, die wir über mehr als zehn Jahre angehäuft haben und die nicht mit einem Federstrich beseitigt werden können.
Ein Vorschlag besteht darin, bei Flüchtlingen, insbesondere aus der Ukraine, Geld zu sparen. Ist es klug?
Da ist man schnell wieder beim Thema Bürgergeld. Unabhängig davon können wir darüber diskutieren, ob wir die richtigen Anreize für die Flüchtlingsarbeit bieten.
Haben wir sie?
Nun ja. Erstens glaube ich nicht, dass das Geld der Bürger Menschen daran hindert, zu arbeiten – außer den schwarzen Schafen. Arbeit macht glücklich und gibt vielen Menschen einen Sinn. Das Problem sind Anrechnungsregeln und Transferentnahmequoten – also wie viel vom Einkommen auf die Bürgerfreibeträge angerechnet wird. Manchmal ist diese Zahl zu hoch, weshalb sich der Mehraufwand bei einer Überweisungsanfrage oft nicht lohnt. Aber auch hier gibt es mehrere Ebenen.
Im Augenblick?
An den Kreditregeln sieht man schnell Bürokratie und Sanktionen. Bei vielen Arbeitsagenturen geht es lediglich um die Berechnung der Ansprüche und nicht um die eigentliche Aufgabenbeschreibung: die Stellenvermittlung. Allerdings können Flüchtlinge durch Unterstützung und Umsiedlung besser in den Arbeitsmarkt integriert werden als durch Sanktionen. Allerdings müssen wir uns fragen, warum sich Flüchtlinge aus anderen Ländern so viel schneller in den Arbeitsmarkt integrieren.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
In Dänemark beispielsweise arbeiten relativ gesehen doppelt so viele Ukrainer wie in Deutschland, sodass Englisch in Unternehmen häufiger verwendet wird. Auch der Kündigungsschutz und die Arbeitnehmerbeteiligung sind geringer als in Deutschland. Das größte Problem ist jedoch die Anerkennung von Abschlüssen. In Deutschland gibt es lächerliche bürokratische Hürden.
Kurz gesagt: Das Problem ist die Bürokratie, nicht die Anreizstruktur selbst? Ja, obwohl es sich aufgrund der Anreize leider lohnt, nur ein wenig zu arbeiten – etwa Minijobs. Wenn ich ab einer bestimmten Freigrenze nur noch 20 % meines Gehalts behalten kann, werde ich nur bis zu dieser Freigrenze arbeiten und der Rest wird mir als Überweisung ausgezahlt. Im Gegenteil, das System kann sogar Anreize für illegale Arbeit schaffen. Dies taucht in der Statistik nicht auf. Viele beziehen Sozialleistungen und arbeiten illegal auf Baustellen oder als Reinigungskräfte. Meiner Meinung nach wurde diesbezüglich nicht genug getan. Stattdessen bekämpfen wir die Bürokratie.
Ist dies jedoch ein Punkt, an dem Sie zusätzliches Einkommen erzielen und gleichzeitig sparen können?
Sicher, aber auf lange Sicht. Sanktionen und Anreize für Arbeitslose reichen bei weitem nicht aus, um eine Haushaltslücke von 17 Milliarden Euro zu schließen.
Wie würden Sie dieses Loch füllen?
Die wichtigste Frage muss sein: Was kann ich tun, ohne das Wachstum zu verlangsamen? Es gibt Möglichkeiten, die Transferabhebungsraten zu senken, damit die Menschen durch ihre Arbeit mehr verdienen können. Dadurch werden die Staatsausgaben gesenkt und die Einnahmen erhöht. Beim Einkommen würde ich die vielen Ausnahmen von der Mehrwertsteuer radikal einschränken – und vielleicht sogar die Mehrwertsteuer insgesamt um den einen oder anderen Prozentpunkt erhöhen. In der EU sind unsere durchschnittlichen Wachstumsraten immer noch mittelmäßig. Zweitens gehe ich auf die Einkommenssteuern ein – darauf, was man absetzen kann und ob einige der sogenannten klimaschädlichen Subventionen tatsächlich notwendig sind. Dies könnte sogar Spielraum für niedrigere Steuersätze für selbstfinanzierte Fonds lassen. Drittens würde ich einige Rentengeschenke aus vergangenen Jahren zurücknehmen. Wir müssen uns der Realität stellen, dass die Menschen älter werden. Deshalb müssen wir auch länger arbeiten.
Jannik Tillar im Gespräch mit Andreas Peichl
Interview erschien zuerst auf Capital.de
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Quelle: www.ntv.de