zum Inhalt

Wenn die eigenen Eltern zum „Feind“ werden

Während Natalie* ihr Umfeld über die Gefahren von Fake-News aufzuklären versucht, teilt ihre eigene Mutter aktiv dubiose Inhalte über Messenger und auf ihrem Profil in sämtlichen sozialen Netzwerken. Dieses Verhalten löst bei der jungen Frau sehr viel Frust aus. „Wie soll ich mich da nicht entmutigt fühlen, wenn meine Bemühungen nicht einmal bei meiner eigenen Mutter anschlagen?“, sagt sie bedrückt.

Wenn Natalie ihre Mutter auf die möglichen Auswirkungen von Verbreitung der Falschmeldungen hinweist, fühlt diese sich sofort angegriffen und reagiert oft beleidigt. Die ganze Situation belastet Natalie sehr, da sie ihre Mutter liebt, aber ihre derzeitige Haltung weder nachvollziehen noch akzeptieren kann. Immer wieder kommt es in der Familie zum Streit, wenn das Thema „Krieg in der Ukraine“ auf dem Gesprächstisch landet. Letztens eskalierte eine Unterhaltung über WhatsApp so sehr, dass Natalie aus Wut und Verzweiflung ihre Mutter für mehrere Tage blockiert hatte.

Mittlerweile haben sich beide versöhnt, doch das Thema ist seitdem ein strenges Tabu bei Familienzusammenkünften. Auch versucht Natalie den Kontakt zu ihrer Mutter weiterhin auf Sparflamme zu halten und besucht sie nun auch immer seltener, um bloß nicht doch auf das Thema zu kommen, das momentan allgegenwärtig ist. „Obwohl wir nicht mehr darüber reden, spürt man diese dicke Luft zwischen uns“, berichtet sie von dem Treffen mit ihrer Familie. „Alle Gespräche wirken jetzt irgendwie künstlich, nicht echt. Es ist nichts mehr so wie früher“, schließt sie mit Bedauern ab.

Generationenkonflikte sind nichts Neues

So wie Natalie geht es vielen jungen Russlanddeutschen und jungen Menschen mit postsowjetischer Migrationsgeschichte. Doch dieser Umstand begann nicht erst mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine: Bereits zuvor sind die Generationen oft aneinander geraten. Das liegt zum Teil an der unterschiedlichen Art und Weise, sich zu informieren, diese Informationen zu verarbeiten – und auch weiter zu tragen.

Die Generationenkonflikte in betroffenen Familien werden immer spürbarer, die Meinungen zum Krieg gehen manchmal derart auseinander, dass es nicht nur bei Streitigkeiten bleibt. Immer mehr Kinder gehen zu ihren Eltern auf Abstand. Es kommt sogar zu kompletten Kontaktabbrüchen. Viele sind mit der Situation schlichtweg überfordert.

„Die Älteren wollen nicht verstehen – die Jüngere wollen nicht nachgeben.“ So in etwa kann man diesen Zustand beschreiben. Die ältere Generation möchte oft von ihren Überzeugungen nicht ablassen, während die junge Generation es überhaupt nicht einsieht, jede propagandistische Lüge schweigend hinzunehmen und im Raum stehen lassen zu müssen.

Informationsquellen und Medienkompetenz

Einer der Gründe, warum die Meinungen und Weltansichten derart auseinander driften, liegt zum einen im unterschiedlichen Konsumverhalten der Medien. Die junge Generation ist sprachlich oft viel besser aufgestellt. Sie beherrschen neben der deutschen oft auch noch die russische und meistens auch noch die englische Sprache, und können sich deshalb allein schon aus diesem Grund vielseitiger informieren, als ihre Eltern, die zum Beispiel sprachbedingt nur russischsprachige Medien konsumieren können.

Dazu kommt die Fähigkeit gezielt nach Informationen suchen und diese einordnen zu können. Junge Menschen beklagen die mangelnde bis fehlende Medienkompetenz ihrer Eltern und Großeltern. Wenn ein Mensch ein Smartphone oder einen Computer bedienen kann, bedeutet das nicht automatisch, dass ihm ein Blick über den eigenen Tellerrand gelingt. Schlimmer noch: Oft schließen sich ältere Menschen in Gruppen zusammen und teilen miteinander unbedacht Falschmeldungen oder andere verdächtige Inhalte. Weniger aus böser Absicht, meistens einfach aus Unwissen.

Während junge Menschen bereits in der Schule und im Studium dem Umgang mit Medien lernen, sämtliche Programme und Apps zum Informieren oder Prüfen von Fakes und Fakten nutzen können, verwendet die ältere Generation die Technik überwiegend zum Austausch mit Gleichgesinnten und Unterhaltungszwecken. Dabei werden unkontrolliert Inhalte verbreitet und geteilt, ohne diese kritisch zu hinterfragen.

Unterschiedliche Sozialisation

Eine nicht weniger wichtige Rolle spielt auch die unterschiedliche Sozialisation der Kinder und Eltern/Großeltern. Die junge Generation ist hier geboren und/oder aufgewachsen. Die Sozialisation in Deutschland ist sehr individualistisch und von demokratischen Werten geprägt. Bereits im Kindes- und Jugendalter wird man an Entscheidungsprozessen beteiligt. Fast alle wichtigsten Lebensentscheidungen können unabhängig, frei und nach individuellen Bedürfnissen getroffen werden.

Bei den Eltern und Großeltern war es jedoch anders. Sie sind in der Sowjetunion groß geworden. Dort stand das kollektive Wohl immer über dem eigenen. Die individuelle Entfaltung oder Entscheidungsfreiheit waren in vielen Bereichen schlichtweg nicht möglich.

Auch ist die ältere Generation nicht gewohnt, dass die Jüngeren widersprechen. Denn in ihrem alten Lebenssystem galt der Grundsatz: Respekt vor dem Alter. Leider prägt sie das bis heute: Die Älteren haben immer Recht, weil sie über eine längere Lebenserfahrung verfügen: Eine Einstellung, die bei der jungen Generation eher aneckt und für Empörung sorgt. Sie wollen ebenfalls ernst genommen werden und wünschen sich eine Diskussion auf Augenhöhe. Doch leider enden die Diskussionen oft in einer Sackgasse, wenn Eltern oder Großeltern das Totschlagargument bringen: „Du bist ja noch jung, du weißt nichts und kennst die Vorgeschichte nicht.“

Gibt es Auswege aus diesen Konflikten?

Es gibt kein Universalrezept, nach dem man alle Familie versöhnen könnte. Den Weg muss jeder für sich entdecken und finden. Leider zeigte die Erfahrung aber auch, dass es in manchen Fällen nicht zu einer Einigung kommen kann: Zu unterschiedlich sind die Ansichten und die Weltanschauung. Was also tun – zur eigenen Familie auf Distanz gehen? Vielleicht sogar den Kontakt abbrechen? Wie schützt man sich selbst vor diesem Druck und negativen Emotionen?

Leider sehen manche Menschen oft keinen anderen Ausweg. Doch bevor es soweit kommt, dass ganze Familien auseinander brechen, sollten andere Wege ausprobiert werden, um die Situation erträglicher zu machen. Denn kaum eine Familie möchte sich komplett zerstreiten.

Eigene Grenzen kennen

Ihren Eltern und Großeltern zuliebe, versuchen junge Menschen oft sich erst gar nicht in Gespräche einzumischen. Allerdings kann ein Familienessen schnell zu einer Folter werden, wenn nur mit Propaganda-Sprüchen um sich geworfen wird. Viele junge Menschen verspüren schnell das Bedürfnis, bestimmte Sachverhalten richtigstellen zu müssen. Tun sie das, löst das erneut eine Diskussionslawine aus. Schweigen sie, dann quälen sie sich selbst damit.

Man sollte aber nicht immer nur aus Liebe zu den eigenen Eltern und Großeltern schweigen und alles hinnehmen, vor allem, wenn es den eigenen Überzeugungen widerspricht. Vielleicht hilft es, wenn man die Familie bittet, das Thema sein zu lassen, wenn man anwesend ist. Das könnte helfen, vorprogrammierten Streit zu vermeiden. Oder man konzentriert sich im Gespräch nicht auf die Unterschiede in der Haltung zu einem Thema, sondern sucht eher gemeinsame Schnittpunkte in der Diskussion. Will man bei dem Gespräch dennoch die Chance nutzen, die Familie über bestimmte Sachverhalten aufzuklären, so sollte es nicht „belehrend“ und von oben herab sein.

Oft lohnt es sich auch danach zu forschen, ob hinter der Haltung der eigenen Eltern und Großeltern eine gewisse Unsicherheit oder Angst steht. Denn ihre Erfahrungen aus der Sowjetunion waren oft sehr schwer und prägend für sie. Vielleicht steckt hinter ihren Weltansichten viel mehr, was sie aber noch nicht an die Oberfläche treten lassen wollen.

Wenn einem aber die Kraft fehlt, sich in die Diskussion zu begeben, sollte man es komplett sein lassen. Zwar ist es unglaublich schwer, so ein aktuelles und allgegenwärtiges Thema immer umgehen zu müssen, doch die eigenen Grenzen dürfen nicht ständig überschritten werden, nur, weil jemandem in der Familie danach ist, sich darüber aufzuregen und auszulassen.

Der Krieg in der Ukraine ist leider nicht das erste und vermutlich nicht das letzte Thema, das nicht nur sich nahestehende Menschen, sondern auch ganze Gesellschaften spaltet. In dieser schwierigen Situation ist es jedoch enorm wichtig, nicht noch mehr Hass entstehen zu lassen.

Fazit

Natürlich sind nicht alle jungen Menschen so aufgeklärt und weltoffen, wie oben beschrieben. Auch dürfen die Vertreter der älteren Generationen nicht pauschal als medieninkompetent, propagandaanfällig und ignorant abgestempelt werden. Die Streitigkeiten rühren oft auch aus ganz anderen Gründen und es gibt auch Familien, wo die Situation genau umgekehrt ist.

*Name von der Redaktion geändert.

Kommentare

Aktuelles