So erklären die Daten das Scheitern von PISA
Deutschland erlebt den nächsten PISA-Schock. Verschiedene Erklärungen und Interpretationen verbreiteten sich schnell. Anhand ausgewählter Daten der letzten Jahre können wir die wichtigsten Argumente einordnen.
Die Trübsal begann um die Jahrtausendwende. Deutschland, das sich selbst als Nation der Dichter und Denker bezeichnet, erlebte 2001 einen Schock: Im Jahr zuvor hatte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine internationale Studie gestartet, die die Bildungssysteme vergleichen sollte verschiedene Länder. Das Programm zur internationalen Schulleistungsstudie (PISA) misst die schulischen Leistungen 15-jähriger Schüler in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen.
Die Ergebnisse der Studie werden bis Ende 2001 veröffentlicht. Die Medien reagierten enthusiastisch, die politischen Verantwortlichen waren schockiert und bald gab es Gerüchte über einen „PISA-Schock“. „Die Situation könnte nicht schlimmer sein“, sagte Ludwig Georg Braun, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK).
Die Ergebnisse Deutschlands waren schlechter als die seines Nachbarn Frankreich, schlechter als der Durchschnitt aller OECD-Länder und deutlich schlechter als Finnland, das in den Folgejahren große Aufmerksamkeit erregte. Dieses böse Erwachen führte zu zahlreichen Reformversuchen, aber auch zu hitzigen Debatten. Inmitten der Debatte darüber, ob ein dreistufiges Schulsystem die soziale Ungleichheit erhöht, gibt es nun Gerüchte über einen Rückzug Deutschlands aus der PISA-Studie.
Doch nach dem PISA-Schock kann Deutschland Fortschritte vermelden: Ab 2006 schnitten Kinder aus der Bundesrepublik besser ab als französische Schüler und der Durchschnitt anderer OECD-Länder. Lag der finnische Leseleistungsrückstand in der ersten PISA-Studie noch bei einem Achtel des deutschen Ergebnisses, schrumpfte dieser bis 2015 auf weniger als ein Zwanzigstel.
Die Aufholjagd gelang mit freundlicher Unterstützung der Finnen, die selbst deutlich langsamer wurden. Besonders deutlich wird dies bei Mathetests: Während deren Ergebnisse zunächst weniger als ein Zehntel besser sind als die der deutschen Schüler, schrumpft dieser Vorsprung bis zum Jahr 2015 auf ein Prozent.
Während der Epidemie erreichte Einschränkungen
Doch spätestens Mitte des letzten Jahrzehnts endete der Aufwärtstrend in Deutschland. Die Ergebnisse in Mathematiktests sind 2012 erneut gesunken. In den meisten Testländern besteht eine deutliche Lücke zwischen der Studie von 2018 und der Studie von 2022. Der Zusammenbruch Deutschlands war besonders drastisch: Die Ergebnisse waren schlimmer als je zuvor, schlimmer als der Schock von 2000. Bei Mathematiktests erreichte der Abstand zum OECD-Durchschnitt im Jahr 2012 seinen Höhepunkt und hat sich inzwischen verzehnfacht.
Ein Grund dafür sind Schulschließungen während der Corona-Pandemie. Stefan Dull, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, sagte gegenüber NDTV, dass die Coronavirus-Pandemie das deutsche Schulsystem „an seine Grenzen“ gebracht habe.
Tatsächlich ist Deutschland europaweit führend, wenn es um Schulschließungen geht. Der Zeitpunkt der Schließung von Schultoren ist jedoch in ganz Europa sehr unterschiedlich. Dieser Wert allein kann die PISA-Ergebnisse nicht erklären. Das ifo-Institut verwies auf die Ausgangslage vor dem Ausbruch: Der digitale Staat erschwerte den Fernunterricht. Eine ifo-Studie zu europäischen Schulen während der Pandemie zeigt: „Deutschland belegt den letzten Platz bei Online-Lernplattformen und -Ressourcen.“
Schon eine einfache Grafik der PISA-Ergebnisse zeigt, dass die Rezession Mitte des letzten Jahrzehnts begann. Genauer gesagt: im Mathetest 2012 und dann im Lesen 2015. Viele Experten sind überzeugt: Die Pandemie hat den Notenrückgang nicht verursacht, sondern nur beschleunigt. Es macht Dinge klar und für Menschen im Bildungssystem weithin sichtbar, die seit langem bekannt sind.
„Fachkräftemangel, verstärkte Zuwanderung“
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani bestätigte gegenüber dem „Stern“: „Wir beobachten diesen Trend seit etwa zehn Jahren. Die neue Corona-Epidemie wird diesen Trend nur noch verstärken.“ Experten sehen die besuchten Baustellen vielfältig: Die Digitalisierung schreitet langsam voran, Eltern Die Heime bleiben für den Erfolg der Schule von entscheidender Bedeutung und die bestehenden Lehrer sind überlastet. „Das deutsche Schulsystem ist kaputt, es mangelt an Fachkräften. Und die Zahl der Einwanderer steigt“, sagte El-Mafaalani.
Tatsächlich besuchen immer mehr Kinder deutsche Schulen, deren Familien eine Einwanderungsgeschichte haben. Kinder, die ihre Bildungslaufbahn im Ausland beginnen Personen, die zu Hause mit ihren Eltern überwiegend Ukrainisch, Türkisch oder Farsi sprechen. Kinder erleben die Flüchtlingserfahrung zu Hause, wo sie niemanden haben, der ihnen bei den Hausaufgaben hilft. Es gibt auch Kinder, die ihren Klassenkameraden in Fremdsprachen immer voraus sind, und Kinder, die nur fließend Deutsch sprechen.
Laut Mikrozensus hatten im Jahr 2008 etwa 28 % aller Kinder an deutschen Schulen einen Migrationshintergrund, im Jahr 2022 wird dieser Anteil auf über 41 % ansteigen. Einige dieser Kinder schnitten in der PISA-Studie deutlich schlechter ab. Das Geburtsland und die hauptsächlich im Elternhaus gesprochene Sprache haben einen erheblichen Einfluss auf die Testergebnisse: In der jüngsten PISA-Studie erzielten im Ausland geborene Kinder im Durchschnitt weniger als 80 % der in Deutschland geborenen Kinder. Der OECD-Durchschnitt liegt bei über 90 %.
Die zu Hause gesprochene Sprache hat nicht nur einen erheblichen Einfluss auf die Lesekompetenz. Auch das Mathematikverständnis hängt stark davon ab: Bei der Internationalen Schulleistungsstudie (PISA) schneiden Kinder deutlich besser ab, wenn zu Hause überwiegend Deutsch gesprochen wird. Die durchschnittliche Punktzahl der Gruppe lag mit 494 deutlich über dem OECD-Durchschnitt und sogar über der finnischen Kontrollgruppe beim Mathetest.
Hinter dem Migrationshintergrund steckt noch ein weiterer Faktor
Für diejenigen, deren Eltern eine andere Sprache sprechen, sieht es anders aus: Der durchschnittliche Wert dieser Gruppe liegt bei 419 und liegt damit deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. In anderen Ländern sind die Unterschiede weniger ausgeprägt, in Deutschland ist die Ungleichheit besonders hoch.
Ein Großteil dieser Ungleichheit hängt jedoch mit der Einwanderungsgeschichte der Familien der Kinder zusammen. In Deutschland ist der Einfluss von Armut und Reichtum auf den Bildungserfolg nach wie vor erheblich. Einwanderer sind überdurchschnittlich anfällig für Armut.Laut einer kleinen Volkszählung lebten im Jahr 2019 etwa 12 % der Minderjährigen ohne Migrationshintergrund in armutsgefährdeten Familien.Gleichberechtigte mit Migrationshintergrund sind mehr als doppelt so häufig betroffen. Etwa ein Drittel der Menschen gelten als armutsgefährdet.
Die OECD hat alle PISA-Teilnehmer in fünf Gleichstellungsgruppen eingeteilt und zeigt damit, wie schwierig es für das deutsche Schulsystem ist, solche Ungleichheit aufzufangen. Sie unterscheidet Kinder anhand ihres sozioökonomischen Status, also des Einkommens der Eltern, der Berufs- und Bildungsabschlüsse, der Anzahl der Bücher im Haushalt oder der Fähigkeit, Hausaufgaben in Ruhe zu erledigen. Kinder der ersten der fünf Gruppen sind besonders wohlhabend, während Kinder der letzten Gruppe besonders benachteiligt sind.
In Deutschland erzielten die Kinder der ersten Gruppe bessere PISA-Ergebnisse als die Kinder aller anderen Gruppen. Ihre Situation ist in etwa vergleichbar mit der ähnlich wohlhabender Kinder in Estland.Allerdings war der Abstand zwischen ihnen und den Kindern in den anderen vier Gruppen so groß, dass die deutschen Kinder in der vierten Gruppe nur so erfolgreich waren wie die am stärksten benachteiligten estnischen Kinder.
Im Zuge des jüngsten PISA-Schocks fordern viele Experten mehr Investitionen in das deutsche Bildungssystem. Die Situation in Deutschland liegt deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Aber Geld in die Schulen zu pumpen allein wird das Problem nicht lösen. Denn oft werden Stellschrauben in einer Situation vergessen, die für den Abbau sozialer Ungleichheiten besonders wichtig ist: der Betreuung und Bildung der Kleinsten.
Kindertagesstätten, in denen viele Bildungsentscheidungen getroffen werden, sind chronisch unterbesetzt. Darunter leiden nicht nur viele Eltern, sondern vor allem auch der Zugang zu frühkindlicher Bildung, insbesondere für benachteiligte Kinder.
Allerdings sind Kindertagesstätten strukturell nicht dem Bildungsministerium angegliedert und gelten in der Regel nur als Betreuungseinrichtung.Ministerin Stark-Wasinger hofft, das zu ändern. Viele der Länder, die in der PISA-Studie gut abgeschnitten haben, sind auch hier Vorbilder.
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Quelle: www.ntv.de