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Russland: Schülerinnen denunzieren ihre Lehrerin

Das hätte sich Irina Gen, eine Englischlehrerin aus Russland, nicht in ihren schlimmsten Albträumen vorstellen können: Ihre eigenen Schülerinnen sind ihr in den Rücken gefallen und haben eine Aufnahme veröffentlicht, in der die Lehrerin (angesichts der aktuellen Gesetzeslage) unvorsichtige Aussagen macht. Irina Gen unterrichtete Englisch an einer Elite-Sportschule in Pensa (etwa 550 Kilometer südöstlich von Moskau).

Gefährliche Wahrheit

Am 18. ereignete sich beim Unterricht eine Diskussion darüber, dass die Schülerinnen nicht mehr an den Sport-Wettbewerben in Europa teilnehmen können. Gegen Russland wurden seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine sämtliche Sanktionen eingeführt, unter anderem auch im sportlichen Bereich. Die jungen Sportlerinnen fühlten sich ungerecht behandelt und wollten sich darüber bei der Lehrerin beschweren. Eine der Schülerinnen hat dabei das Gespräch aufgenommen.

Als die Mädchen sich darüber aufgeregt hatten, warum sie nun ausgeschlossen worden sind, antwortete die Lehrerin, dass sie sich darauf in Zukunft besser einstellen sollen. Denn solange „Russland es nicht lernt, sich zivilisiert zu benehmen“, wird der Zustand noch andauern. Irina Gen wollte ihren Schülerinnen erklären, dass die Sanktionen in allein Bereichen eine harte Maßnahme seien, um auf das, was in der Ukraine passiert, zu reagieren. Welche Konsequenzen ihre mutigen Aussagen haben werden, konnte sie damals nicht erahnen.

Abholung durch den Geheimdienst

Am 23. März stand plötzlich ein Mitarbeiter des Geheimdienstes bei Irina auf der Arbeit. Gegenüber einem Radiosender erzählte sie im Interview, dass es ihr „nie in den Kopf gekommen wäre, dass man seine eigene Lehrerin – dass man überhaupt jemanden – denunzieren kann“. Irina Gen wurde abgeführt und musste sich den Vorwürfen stellen. Besonders bitter: Ihr wurde die Aufnahme einer ihrer Schülerinnen vorgespielt. Irina wird nun vorgeworfen, dass sie gegen das Gesetz gegen die Verbreitung von Fake-Nachrichten über die „Spezialoperation“ in Russland verstoßen habe. In Russland ein schlimmes Vergehen. Der Mann vom Geheimdienst war während des Gesprächs zwar höflich und korrekt, versuchte jedoch einen psychologischen Druck auf die Lehrerin auszuüben, so die Lehrerin. Sie konnte ihre Aussagen nicht leugnen, stehe aber dazu, was sie gesagt hatte. Obwohl ihr ein harter Prozess mit schweren Konsequenzen droht.

Die Frau hinter dem Lehrerinnenbild

Noch am selben Tag kündigte Irina Gen ihren Job. Seit dem 1. April ist sie nicht mehr Lehrerin der Elite-Sportschule, sondern arbeitet freiberuflich und betreut, laut ihrer eigenen Aussage, nur ausgewählte Schülerinnen und Schüler. Der Lehrerin drohen aufgrund der neuen Gesetzeslage und wegen ihren Aussagen hinsichtlich des Kriegs in der Ukraine eine hohe Geldstraße (zwischen drei bis fünf Millionen Rubel) oder sogar eine Gefängnisstrafe von fünf bis zu zehn Jahren. Das Gesetz wurde nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine eingeführt, um die Flut der Nachrichten und Bilder aus den Kriegsgebieten, die von der Gegenseite und seitens des Westens kommen, einzudämmen. Alle, die sich kritisch gegen die „Spezialoperation“ aussprechen oder eine Version der Geschehnisse verbreiten, die von der offiziellen abweicht, müssen mit hohen Geld- oder langjährigen Haftstrafen rechnen.

Auf dem ersten Blick scheint Irina Gen eine einfache Englischlehrerin zu sein. Doch sie passt so gar nicht in das typische Muster einer russischen Lehrerin – oder einer Lehrerin im aktuellen Russland. Die Frau reiste immer für ihr Leben gern und hatte zu ihrer Zeit viele europäische Länder besucht. Sie liebt es fremde Kulturen und Länder kennen zu lernen, neue Menschen zu treffen und ins Gespräch zu können. Ihrer Tätigkeit als Lehrerin ging sie gern nach, wollte in einem Team arbeiten und durch ihren Job an der Sportschule noch etwas in die eigene Rentenkasse einzahlen.

Das Leben in Davor und Danach

Für Irina teilte sich das Leben nach der Denunzierung in ein Davor und ein Danach. Laut ihrer Aussage, betrachtet sie die Entwicklungen in Russland seit dem Ausbruch des Krieges mit großer Sorge. Ihre Eltern seien bereits sehr politisch interessiert gewesen, dieses Interesse hat Irina wohl geerbt.

Auf der Audioaufnahme ist zu hören, wie sie zu ihren Schülerinnen sagt, dass sie sich über die aktuelle Lage über mehrere Quellen informiere. Irina hatte schon immer einen erweiterten Blick für die Geschehnisse und Ergebnisse in der Welt und in ihrem Umfeld. Dass so viele Menschen aus ihrer näheren Umgebung den Krieg in der Ukraine befürworten und unterstützen, schockiere sie zutiefst. Nach dem Vorfall an der Schule waren ihre Eltern die einzigen Menschen gewesen, die zu ihr gestanden sind, erzählte Irina.

Das Leben im eisernen Käfig

Auf Irina Gen wartet ein langer und schwieriger Prozess. Deswegen macht sie momentan noch keine Pläne für die Zukunft. Ausgehend vom Resultat des Gerichtsverfahrens wird sie ihr Leben neu aufstellen, sagte sie in einem Interview. Russland möchte sie dennoch nicht verlassen. Irina plant ihre ganzen Kräfte dafür einzusetzen, mit dieser Situation fertig zu werden. Sie ist davon überzeugt, dass ihre Angelegenheit eigentlich so unbedeutend ist, doch die Repressionsmaschine brauche Fälle, um die anderen abschrecken zu können. Und sie geriet leider darunter.

„Das ist wohl vererbbar“, erklärte sie bitter gegenüber einem Radiosender. Bereits ihr Großvater und ihr Großonkel wurden wegen angeblicher antisowjetischer Propaganda verurteilt. Später wurden beide rehabilitiert. Nun wiederholt Irina den Weg ihrer Vorfahren.

Irina Gen ist nach wie vor zutiefst über das Vorgehen ihrer eigenen Schülerinnen erschüttert. Sie weiß, dass Kinder in erster Linie von ihren Eltern geprägt werden. Da die meisten Eltern den Krieg befürworten und auf die Hass-Propaganda gegen Andersdenkende aufspringen, hatte wohl jemand das Mädchen, das die Aufnahme gemacht hat, dazu angestiftet.

Die Lehrerin glaubt daran, dass dieser Vorfall ohne Beachtung geblieben wäre, wenn die Mehrheit der Gesellschaft sich nicht so verbissen für diesen Krieg aussprechen würde. Es gäbe Zeiten, wo man bestimmte Aussagen nicht einmal zur Kenntnis nimmt und solche Zeiten, in denen jedes Wort zum Verhängnis werden kann. Irina hat ihre Lehren aus der Situation gezogen. In einem Land, in dem es keine Meinungsfreiheit gibt, ist jedes Wort der Wahrheit ein selbst unterschriebenes Urteil, so Irina.

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