Kann Deutschland die Wehrpflicht wieder einführen? In der deutschen Politik ist eine Diskussion darüber entbrannt, ob der obligatorische Wehrdienst in irgendeiner Form wieder in das Land zurückkehren sollte.
Den Anstoß zu dieser Diskussion gab der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), der in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärte, dass die Abschaffung der Wehrpflicht im Jahr 2011 ein “Fehler” gewesen sei.
Später brachte die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl (SPD), das Thema auf und forderte die Regierung auf, die Notwendigkeit eines neuen Systems zur Rekrutierung von Soldaten zu prüfen.
“Wir sollten jetzt Debatten beginnen – auch darüber, wie viel davon verpflichtend sein sollte und wie viel freiwillig sein sollte“, sagte Högl in einem Interview mit der Augsburger Allgemeine am Mittwoch.
Die Bundeswehr muss die Arbeitsbedingungen und die operative Struktur verbessern, um die besten Talente nicht zu verlieren, fügte sie hinzu.
Warum braucht Deutschland die Wehrpflicht?
Es gibt mehrere Argumente, die von Befürwortern der Wehrpflicht vorgebracht werden. Das erste ist die Tatsache, dass die Streitkräfte derzeit, wie viele andere Bereiche der deutschen Gesellschaft, einen akuten Personalmangel haben.
Laut Högl benötigt die Bundeswehr “dringend” mehr Rekruten, daher sollte die Regierung alternative Modelle für ihre Rekrutierung in Betracht ziehen.
Derzeit gibt es etwa 183.000 Soldaten in den deutschen Streitkräften, aber nur 20.000 sind an aktiven Einsätzen beteiligt. Die Armee gilt als die sechststärkste in Europa nach Russland, Frankreich, Großbritannien, Italien und der Türkei, aber Militärexperten sagen, dass sie unter jahrelanger Unterfinanzierung und Vernachlässigung leidet.
Der Krieg in der Ukraine zwang Deutschland im letzten Jahr dazu, sein militärisches Potenzial zu überdenken, und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kündigte kurz nach Beginn der vollen russischen Invasion Geldzuweisungen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die geschwächten Streitkräfte an.
Befürworter der Wiedereinführung der Wehrpflicht sind jedoch nicht der Meinung, dass Deutschland von einer unausweichlichen russischen Aggression bedroht ist. Stattdessen argumentierte Pistorius, dass der obligatorische Dienst eine Möglichkeit wäre, eine stärkere Verbindung zwischen der deutschen Gesellschaft und ihren Streitkräften herzustellen, während andere behaupten, dass zur Bereinigung der Bundeswehr mehr Personal benötigt wird.
Wie würde das aussehen?
Eine Option könnte die Rückkehr zu dem Modell sein, das vor 10 Jahren in Deutschland existierte.
In der Zeit von 1956 bis 2011 waren deutsche Männer verpflichtet, einen einjährigen Wehrdienst zu leisten, sobald sie 18 Jahre alt wurden. Diejenigen, die keinen Wehrdienst leisten wollten, konnten alternativ Zivildienst ableisten, zum Beispiel als Pflegehelfer in Krankenhäusern oder Altenheimen.
Da die Bedrohungen nach dem Fall der Berliner Mauer abnahmen, schaffte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Wehrdienst im Jahr 2011 ab. In den letzten Jahren jedoch wird über die Rückkehr des Sozial- oder Wehrdienstes für junge Menschen in irgendeiner Form debattiert, wobei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) einer der vehementesten Befürworter dieser Idee ist.
Ein alternativer Vorschlag wurde kürzlich von dem Chef der Marine, Jan Christian Kaak, in einem Interview mit der DPA vorgestellt.
Kaak schlug vor, dass Deutschland möglicherweise die Erfahrungen des norwegischen Modells übernehmen könnte, bei dem alle jungen Männer und Frauen, sobald sie 19 Jahre alt werden, zur Prüfung eingezogen werden. Aus etwa 70.000 Jugendlichen wählt die Armee aus, wie viele von ihnen im nächsten Jahr eingezogen werden sollen, normalerweise etwa 15.000 der am meisten motivierten.
Dann absolvieren sie einen einjährigen Militärdienst.
“Ich glaube, dass eine Nation, die in solchen Zeiten stabiler werden muss, ein höheres Maß an Aufklärung haben wird, wenn Soldaten in ihr dienen”, erklärt Kaak.
Wehrpflicht: Könnte dies tatsächlich passieren?
Wenn Deutschland tatsächlich zur Wehrpflicht zurückkehrt, sowohl im zivilen als auch im militärischen Sektor, wird dies wahrscheinlich nicht in dieser Legislaturperiode geschehen.
Derzeit zögert die Koalition aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freien Demokraten (FDP) in Bezug auf Spekulationen über eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht.
Steffen Hebestreit, ein Regierungssprecher, sagte der Guardian, dass die derzeitige Diskussion “unsinnig” sei und dass die Umstellung der Armee von einer Freiwilligen- zu einer Pflichtorganisation nicht über Nacht erfolgen könne.
Prominente Vertreter der liberalen FDP haben sich ebenfalls von dieser Frage distanziert, und der Finanzminister Christian Lindner (FDP) nannte die Diskussion eine “phantomhafte Debatte”.
“Alle unsere Bemühungen sollten darauf ausgerichtet sein, die Bundeswehr als hochprofessionelle Armee zu stärken”, sagte Lindner in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.
Unterdessen twitterte der Justizminister Marco Büschmann (FDP): “Zwang ist zweifellos das schlechteste Modell für die Schaffung einer motivierten Armee hochqualifizierter Fachleute.”
Dennoch wird es rechtliche Mechanismen geben, um die Wehrpflicht wieder einzuführen, wenn diese Regierung – oder zukünftige Regierungen – entscheidet, dass die Wehrpflicht das bevorzugte Modell ist.
Obwohl Merkel bereits 2011 den obligatorischen Wehrdienst abgeschafft hat, gibt es immer noch einen Punkt im Grundgesetz Deutschlands, der der Regierung erlaubt, Männer über 18 Jahre in die Streitkräfte einzuberufen.
