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Israel in der Vertrauenskrise: Wie geht es weiter?

Netanjahu:Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will nach dem Angriff der Hamas bisher öffentlich keine Fehler einge
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will nach dem Angriff der Hamas bisher öffentlich keine Fehler eingestehen.

Israel in der Vertrauenskrise: Wie geht es weiter?

Es sind die eher seltenen Auftritte von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. In einer kurzfristig anberaumten Fernsehansprache richtete er sich am Abend an die Nation.

In schwarz gekleidet bekräftigt er das Ziel, die islamistische Hamas im Gazastreifen zu zerstören, stellt eine Bodenoffensive in Aussicht, beschwört den Zusammenhalt. Die Übernahme für die Verantwortung für das politische und militärische Versagen am Tag des blutigen Anschlags der Hamas bleibt auch an Tag 18 weiter aus.

Stattdessen stellt Netanjahu eine Untersuchung der Ereignisse vom 7. Oktober nach dem Krieg in Aussicht. «Dieses Versagen wird umfassend untersucht werden, alle werden Antworten geben müssen – auch ich». Gegenwärtig sei es seine Verantwortung, «die Zukunft des Landes zu sichern».

Kritik an Netanjahu

Anders als etwa Verteidigungsminister Joav Galant oder die Chefs israelischer Geheimdienste weigerte sich Netanjahu bisher, öffentlich eigene Fehler einzugestehen. Beobachter sind sich einig, der 74-Jährige will auch nach dem Krieg an seinem Amt festhalten. Und das, obwohl unter seiner Führung das schlimmste Massaker der israelischen Geschichte passieren konnte. «Ein Mensch, der für die Zukunft verantwortlich ist, geht nirgendwo hin», schreibt etwa der israelische Kommentator Ben Caspit in der Zeitung Maariv.

Seit Tagen bestimmen Versuche Netanjahus, sein politisches Überleben zu sichern, die Schlagzeilen in Israel. Eine Liste mit möglichen Verantwortlichen für das Debakel soll der am längsten amtierende Regierungschef Israels Medien zufolge bereits in Auftrag gegeben haben.

«Er ist sehr involviert in den Tag danach, selbst jetzt, wo er sich auf andere Dinge konzentrieren sollte», sagt Experte Chuck Freilich vom israelischen Institut für Sicherheitsstudien. Netanjahus Maschinerie, darunter seine politischen Berater, versuchten, die Schuld an dem Debakel abzuwälzen.

Vor allem die militärische Führung sowie Verteidigungsminister Joav Galant seien auf Netanjahus «Schuld-Liste» weit oben. Sicherlich waren diese an dem Debakel maßgeblich beteiligt, sagt Freilich. «Aber Netanjahu ist der Regierungschef.»

Netanjahu und seine rechtsextremen Koalitionspartner tragen nach seiner Ansicht die Hauptschuld des katastrophalen Scheiterns des ersten Tages mit rund 1400 von der Hamas getöteten Menschen. Die Regierung sei abgelenkt gewesen, hätte sich auf ihre extremen Pläne zum Umbau der Justiz konzentriert, sagt Freilich. Monatelang spalteten diese die israelische Gesellschaft, Warnungen – auch von Galant – vor einer Gefahr für Israels Sicherheit, blieben ungehört.

Demonstrationen und Proteste

Tausende Reservisten kündigten wegen der Politik an, nicht mehr zum Dienst anzutreten. «Das Militär war vor dem Auseinanderfallen, die Soldaten haben den Ball aus den Augen verloren», sagt Freilich. Ob er sich Netanjahu trotz allem im Amt halten könne, sei schwer zu sagen: «Ich denke nicht, aber er wird alles dafür tun.»

Die Wut auf den Regierungschef schlägt sich teilweise auch auf den Straßen Tel Avivs nieder. Wo sich vor vier Wochen noch Demonstranten gegen die Justizreform-Pläne versammelten, sind heute Proteste zur Befreiung der mehr als 220 in den Gazastreifen verschleppten Geiseln. Viele Demonstranten fordern das Ende von Netanjahus Amtszeit.

Sticker und Plakate am vergangenen Wochenende auf der Kaplan-Straße in Tel Aviv zeigten den Regierungschef mit einer blutroten Hand im Gesicht. Auf anderen stand geschrieben: «Der Zerstörer Israels». Die Demonstrationen haben nicht das Ausmaß wie vor dem Krieg.

Hunderttausende Menschen gingen damals über Monate gegen Netanjahus Regierung auf die Straßen. Nun sind es mehrere Hundert. Für viele Israelis ist noch nicht der richtige Zeitpunkt für Proteste gekommen. Abgerechnet werde nach dem Krieg, heißt es immer wieder im öffentlichen Diskurs.

Vertrauen in Militär – aber nicht in politische Führung

Der massive Vertrauensverlust spiegelt sich auch in jüngsten Umfragen wider. Lediglich 18 Prozent der Befragten vertrauen demnach laut Untersuchungen des israelischen Demokratieinstituts (IDI) noch der politischen Führung. Laut IDI der niedrigste Stand seit Beginn seiner Messung 2003. Besonders auffällig der Vertrauensverlust auf 31 Prozent innerhalb Netanjahus konservativer Wählerschaft. Im Juni waren es noch 42 Prozent.

Das Vertrauen in das Militär bleibt dagegen mit 87 Prozent unangefochten. Die israelische Armee war immer schon die Institution mit der höchsten Unterstützung in Israel. «Auch wenn das Vertrauen schwer verletzt wurde, am Ende verstehen die Menschen in Israel, dass sie nur mit dem Militär gewinnen können», sagt Freilich.

An der Grenze zum Gazastreifen stehen bereits Tausende Soldaten bereit, um dieses Ziel zu erreichen. Der entscheidende Befehl für eine Bodenoffensive steht weiter aus. Der Ball liege bei der Politik, betonten Militärvertreter in den vergangenen Tagen immer wieder. Dort scheint das weitere Vorgehen noch nicht endgültig entschieden.

Plan für «den Tag danach»

«Es gibt weiter Unstimmigkeiten darüber, was die richtige Strategie ist», sagt Michael Milshtein, Experte für palästinensische Angelegenheiten von der Reichman Universität. Manche wünschten sich ein noch härteres Vorgehen, andere plädierten für mehr Zeit, um das Militär vorzubereiten.

Auch die Frage, nach dem «danach» spiele eine entscheidende Rolle. «Die Hamas zerstören» sei ein leichtgesagter Slogan. «Aber wer übernimmt dann die Kontrolle? Wie stellt man sicher, dass der, der die Kontrolle übernimmt, an der Macht bleibt?» Dazu komme das Schicksal der mehr als 200 in den Gazastreifen verschleppten Geiseln.

Doch der Druck der Gesellschaft sei groß, sagt Milshtein. Für viele Israelis sei klar, es gebe keinen Weg mehr zurück. Man könne nicht mehr «mit dieser Art von Monstern» als Nachbarn leben, sagt Milshtein in Bezug auf die Gräueltaten der im Gazastreifen herrschende Hamas. «Es ist, als ob wir 24/7 unter existenzieller Bedrohung stehen.» Die bisherige israelische Gaza-Politik hält er klar für gescheitert.

Leicht sei das Warten für die Soldatinnen und Soldaten jedoch nicht, sagt Sicherheitsexperte Freilich. «Sie wollen hart und schnell reagieren, sie wollen das Versagen des ersten Tages wiedergutmachen.» Für viele Kämpfer sei es nun entscheidend zu zeigen, sie können nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober gewinnen. «Sie brauchen einen Erfolg».

Quelle: www.bild.de

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