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„Ich kann nicht mehr in Würde auf die Toilette gehen.“

Das Al-Kuds-Krankenhaus in Gaza-Stadt wird vom Palästinensischen Roten Halbmond betrieben. Derzeit befinden sich neben den P
Das Al-Kuds-Krankenhaus in Gaza-Stadt wird vom Palästinensischen Roten Halbmond betrieben. Derzeit befinden sich neben den Patientinnen und Patienten rund 12.000 Schutzsuchende in der Klinik.

„Ich kann nicht mehr in Würde auf die Toilette gehen.“

ntv.de: Wie beschreiben die Einsatzkräfte des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds derzeit die Lage im Gazastreifen?

Christof Johnen: Die humanitäre Lage in Gaza wird immer ernster. Niemand war auf die Eskalation vorbereitet, daher fehlte alles: Nahrung, Wasser, Unterkunft, Gesundheitsversorgung – und natürlich, am wichtigsten, die Sicherheit und der Schutz der Zivilbevölkerung. Von den rund 2,2 Millionen Einwohnern Gazas sind derzeit 1,4 Millionen Binnenvertriebene. Einige suchen Zuflucht bei Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen, aber in Wirklichkeit sind viele auf der Suche nach Schutz auf der Straße. Viele von ihnen suchen auch Zuflucht in Krankenhäusern, weil sie hoffen und glauben, dass Krankenhäuser ein sicherer Ort sind.

Es ist schwer, sich das Schicksal Tausender Menschen in bereits überlasteten Krankenhäusern vorzustellen.

Zum Beispiel betreibt die Palästinensische Rothalbmond-Gesellschaft zwei Krankenhäuser in Gaza, darunter eines in Gaza-Stadt. Derzeit sind dort 12.000 Schutzsuchende. Dann sind da noch die Patienten. Sie können sich vorstellen, wie es wäre, wenn Tausende von Menschen in Krankenhäusern leben würden, die nicht dafür ausgelegt sind. Alle Gänge waren völlig überfüllt. Auch die unsichere Wasserversorgung ist ein großes Problem. Obwohl es teilweise restauriert wurde, reicht es nicht für alle. Die tägliche Hygiene einzuhalten oder einfach nur in Würde auf die Toilette zu gehen, ist nicht mehr möglich. Wenn in dieser Situation viele Menschen zusammenleben, besteht auch die Gefahr einer Krankheitsübertragung. Dies könnte Durchfall oder eine Infektionskrankheit wie Masern sein, was sehr gefährlich wäre. Die Bedingungen waren hart und die Situation äußerst gefährlich. Deshalb ist es wichtig, Gaza jetzt ausreichend Hilfe zu leisten.

Seit mehreren Tagen dürfen Lastwagen mit Hilfsgütern die ägyptische Grenze nach Gaza überqueren. Wie verbessert sich dadurch die Situation?

Grundsätzlich ist die Öffnung der Grenzen durchaus zu begrüßen. Allerdings ist der Umfang der über diese Überfahrt geleisteten Hilfe beklagenswert unzureichend. Durchschnittlich kommen täglich zwölf Lastwagen in Gaza an. Die Vereinten Nationen schätzen, dass mindestens 100 Menschen pro Tag benötigt werden, um ein Mindestmaß an Versorgung für die Menschen zu gewährleisten. Die Hilfe fließt weder in der erforderlichen Menge, noch mit der nötigen Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit. Natürlich mangelt es auch an Menschen, die helfen können. Am Freitag entsandte das Rote Kreuz erfolgreich zehn weitere Experten nach Gaza. Dazu gehören ein Operationsteam und Wasserbauingenieure, die versuchen, die Wasserinfrastruktur zumindest vorübergehend zu reparieren. Damit diese Helfer ihre Arbeit bedarfsgerecht ausführen können, sind mehr Hilfe und Sicherheit erforderlich.

Wie sieht die Arbeit Ihrer Mitarbeiter in diesem instabilen Umfeld eigentlich aus?

Unser Schwesterunternehmen, die Palästinensische Rothalbmond-Gesellschaft, ist vor allem im Gazastreifen aktiv. Bis zum 7. Oktober unterstützen wir vom Deutschen Roten Kreuz unsere Kollegen vor Ort beim Aufbau und Betrieb der präklinischen Notfallversorgung, einem Rettungsdienst. Diese Hilfe ist finanzieller, vor allem aber beratender und struktureller Natur. Seit dem 7. Oktober haben wir unsere Pläne geändert und unsere palästinensischen Kollegen mit medizinischer Versorgung versorgt. Ohne sie wäre es nicht möglich gewesen, die Rettungsbemühungen für die bei den Kämpfen Verletzten zu intensivieren. Neben Medikamenten transportieren die sechs Lastwagen der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, die bisher in Gaza angekommen sind, auch standardisierte medizinische Hilfsgüter. Mit der Ausrüstung könnten 100 Menschen mit typischen Kampfverletzungen wie Schusswunden oder Granatsplittern versorgt werden. Wir bieten auch Unterstützung bei der Organisation der Lieferung an, da es sich hierbei um einen recht komplexen Prozess handelt.

Inwieweit?

Die Vorbereitung eines Grenzübertritts erfordert viel Verwaltungsaufwand. Anschließend fuhren Kollegen der Ägyptischen Rothalbmond-Gesellschaft zur Gaza-Grenze. Dort wurde der LKW inspiziert. Dann findet ein sogenannter Back-to-Back-Prozess statt: Zwei Lastwagen fahren hintereinander und Hilfsgüter werden vom Lastwagen des Ägyptischen Roten Halbmonds auf den Lastwagen des Palästinensischen Roten Halbmonds umgeladen. Ägyptische Transporter dürfen oft nicht in den Gazastreifen einreisen. Bei der Ankunft in Gaza wurden die Hilfsgüter sofort an die Menschen in Notunterkünften verteilt. Da die Menge zu gering ist, macht eine Bevorratung derzeit keinen Sinn.

Der Gazastreifen wird von der Terrorgruppe Hamas kontrolliert. Das bedeutet, dass alle Ministerien ihr unterstellt sind. Wie funktioniert in diesem Zusammenhang die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen?

Der Dialog mit allen Konfliktparteien ist Aufgabe und Verpflichtung des Internationalen Roten Kreuzes. In Gaza gehören dazu auch Vertreter der Hamas, da diese auch die faktischen Machthaber sind. Ein sicherer Zugang für humanitäre Helfer zu Zivilisten kann nur durch einen vertraulichen Dialog mit allen Konfliktparteien ausgehandelt werden. Als neutraler Vermittler kann das Internationale Rote Kreuz Geiseln besuchen, Kontakt zu ihren Familien herstellen und ihre eventuelle Freilassung unterstützen.

Was bedeuten wiederholte und vollständige Kommunikationsausfälle für die Kollegen vor Ort?

Das ist natürlich verheerend für die Rettungsdienste. So hatten Menschen am vergangenen Freitag keine Möglichkeit mehr, die Notrufnummer 101 im Gazastreifen anzurufen. Das bedeutet, dass wir die Menschen, denen wir eigentlich Leben retten sollten, nicht mehr erreichen können. Gleichzeitig wurden die Kämpfe heftiger und intensiver als zuvor. Die Straßen liegen in Trümmern. Vor diesem Hintergrund besteht eine große Herausforderung für diejenigen, die bei der Durchführung der Mission helfen.

Was ist das größte Problem bei der medizinischen Versorgung von Kliniken?

Das Problem liegt zunächst in der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter. Alle Ärzte, Pflegekräfte, Verwaltungs- und Technikmitarbeiter sowie Hausmeister und Reinigungskräfte sind seit mehr als drei Wochen im Dauereinsatz. Auch diese Menschen und ihre Familien sind vom Konflikt direkt betroffen. Die Helfer waren erschöpft. Deshalb ist es so wichtig, mehr externe Teams und frische medizinische Versorgung einzubinden. Darüber hinaus verfügt jedes Krankenhaus über eine gewisse Reserve, nämlich eine hauseigene Apotheke, die nun aber zu Ende geht. Zuerst kommt das Antiseptikum, gefolgt von Schmerzmitteln, Betäubungsmitteln und Bandagen. Zudem erfolgt die Stromversorgung seit der Modernisierung über Generatoren.Aufgrund des Brennstoffmangels können Kliniken jedoch nur stundenweise Strom liefern oder den Strom auf Bereiche konzentrieren, die permanent Strom benötigen, wie etwa Neugeborenen- oder Intensivstationen. Dies bedeutet, dass Kliniken in ihrer Fähigkeit, verletzten Menschen zu helfen, stark eingeschränkt sind. Schließlich sollten wir die Last des Kämpfens nicht vergessen. Am Wochenende kam es in der Nähe des Quz-Krankenhauses in Gaza-Stadt, das von der Palästinensischen Rothalbmond-Gesellschaft betrieben wird, zu einer Explosion. Kollegen berichteten, dass das gesamte Krankenhaus erschüttert sei.

Die Al-Kuds-Klinik war auch das Krankenhaus, dessen Evakuierung die IDF beantragte. Inwieweit halten Ihre Kollegen diese Regel ein?

Überhaupt nicht. Ein Krankenhaus kann nicht evakuiert werden, es sei denn, es gibt ein anderes Krankenhaus oder Gebäude, in dem die Menschen weitere medizinische Versorgung erhalten können. Darüber hinaus muss die Patientenversorgung während des Transports gewährleistet sein. Selbst in Friedenszeiten ist dies eine sehr schwierige Aufgabe. Dies ist in einem bewaffneten Konflikt unmöglich. Auch deshalb genießen Krankenhäuser einen besonderen Schutz nach dem humanitären Völkerrecht. Ihr Zweck ist es, ein Ort der Sicherheit und Zuflucht zu sein.

Vor einigen Tagen kündigte Israel an, der Krieg werde „schwierig und langwierig“ sein. Wie kann vor diesem Hintergrund eine humanitäre Katastrophe in Gaza verhindert werden?

Menschen brauchen einen sicheren Ort und humanitäre Hilfe muss leisten können. Alles andere ist inakzeptabel. Deshalb fordern wir alle Konfliktparteien auf, die Situation zu deeskalieren, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten und angemessene humanitäre Hilfe zu leisten. Wir vom Roten Kreuz haben keinen Einfluss auf politische Entscheidungen. Wir können nur auf das Leid der Menschen und die schlimme Lage vor Ort aufmerksam machen. Wenn sich unsere Welt nicht so schnell verändert, wird es ein katastrophales Scheitern sein.

Sarah Platz spricht mit Christof Johnen

Quelle: www.bild.de

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