Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist in Deutschland wesentlich durch die Bundespräsidenten geprägt worden. Zu diesem Ergebnis gelangt der Historiker Norbert Frei in einer Studie über das Bundespräsidialamt und den Nationalsozialismus. «Für den gesellschaftlichen Umgang mit der Vergangenheit war, was das Staatsoberhaupt tat und wie es sich äußerte, von grundlegender Bedeutung», sagte der Geschichtsprofessor aus Jena am Mittwoch in Berlin bei der Vorstellung der Ergebnisse seines Forschungsprojekts.
Dies habe sich zu einem Merkmal des bundesdeutschen Wegs der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit entwickelt. Dabei sei am Anfang die «vergangenheitspolitische Prägekraft» von Theodor Heuss gestanden. Das erste Staatsoberhaupt habe vor allem in den frühen Jahren seiner Präsidentschaft wie kein anderer Politiker einschlägige Begriffe geprägt oder verworfen.
So habe Heuss drei Monate nach seiner Wahl 1949 von «Kollektivscham» gesprochen – was gegen den Begriff «Kollektivschuld» zielte, mit dem die Deutschen die alliierten Entnazifizierungsbemühungen abwehren wollten. Eine kollektive Scham aber habe Heuss für nötig befunden. Von normsetzender Bedeutung sei 1952 auch das Eingeständnis («Wir haben von den Dingen gewusst») gewesen, dass den Deutschen die Judenverfolgung – anders als oft behauptet – bekannt gewesen sei.
Sechs Bundespräsidenten analysiert
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der das Forschungsprojekt initiiert hatte, betonte, für einen Bundespräsidenten sei es eine besondere Verpflichtung, sich der Geschichte seines Amtes zu stellen. «Gerade in dieser Zeit, in der unsere Demokratie so sehr angefochten ist, müssen wir uns als Gesellschaft unserer Geschichte bewusst sein», mahnte Steinmeier. «Denn was sich nicht wiederholen soll, das darf nicht vergessen werden. Das müssen wir kennen.»
Frei und sein Team analysierten die sechs Bundespräsidenten der Bonner Republik – Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens und Richard von Weizsäcker.
Lübke wie Heinemann hätten ihren Teil zum Funktionieren der NS-Kriegswirtschaft auf Kosten des Millionenheers der Zwangsarbeiter beigetragen, sagte Frei – Lübke als leitender Angestellter eines privaten, im Rüstungsbereich tätigen Ingenieurbüros, Heinemann als Justitiar der Rheinischen Stahlwerke in Essen. Nach einer von Ost-Berlin lancierten Kampagne, die Lübke zum «KZ-Baumeister» machte, trat dieser zehn Wochen vor Ende seiner zweiten Amtszeit 1969 zurück.
Die eigene Glaubwürdigkeit beschädigt
«Mit Walter Scheel und nach ihm Karl Carstens übernehmen dann im Laufe der 70er Jahre Angehörige der Soldatengeneration das höchste Amt im Staate, die ihre keineswegs aus freien Stücken eingeräumte Mitgliedschaft in der NSDAP kleinzureden suchten.» Beide hätten damit ihre Glaubwürdigkeit beschädigt, so der Historiker. «Denn kritisch zur NS-Vergangenheit sich zu positionieren und für deren Aufarbeitung einzutreten, das gehört inzwischen zu den Grunderwartungen, die ein wachsender Teil der bundesdeutschen Gesellschaft an ihr Staatsoberhaupt richtet.» Carstens bekam dies schon vor seiner Wahl als Welle der Empörung vor allem bei jungen Menschen zu spüren.
Und Weizsäcker? Der einstige Wehrmachtsoffizier habe am 8. Mai 1985 mit seiner Ansprache zum 40. Jahrestags des Kriegsendes Beifall – auch international – wie vorher und später kein anderer Präsident für eine Rede geerntet, so Frei.
Allerdings gab der Historiker zu bedenken: Ein beträchtlicher Teil der öffentlichen Wirkung dieser Rede erkläre sich durch den kurz zuvor von Kanzler Helmut Kohl (CDU) ausgelösten Skandal, als dieser US-Präsident Ronald Reagan zu einem Besuch auf dem Soldatenfriedhof Bitburg gedrängt habe, auf dem auch Gefallene der Waffen-SS lagen. «Und man darf sich fragen, wie die Wirkung der Weizsäcker-Rede wohl ausgefallen wäre, hätte sich der Präsident – wovon er erst in letzter Minute auf den dringenden Rat von Mitarbeitern Abstand nahm – für die Begnadigung von Hitlers einstigem Stellvertreter Rudolf Heß eingesetzt.»