Die verstörenden Bilder aus dem israelischen Grenzgebiet zum Gazastreifen sind wie aus einem Alptraum. Überraschend feuern militante Palästinenser aus dem Küstenstreifen am frühen Samstagmorgen Tausende von Raketen auf israelische Ortschaften. Gleichzeitig dringen zahlreiche bewaffnete Palästinenser über Land, See und Luft am jüdischen Feiertag Simchat Tora (Freude der Tora) nach Israel vor, obwohl die Sperranlage als besonders streng gesichert gilt.
Mindestens 100 Israelis werden getötet und Hunderte verletzt, als die Angreifer in verschiedene Ortschaften im Grenzgebiet eindringen und sich dort auch mit Geiseln in Häusern verschanzen. Es seien auch mehrere Israelis in den Gazastreifen verschleppt worden, bestätigte ein Militärsprecher.
Netanjahu spricht von Krieg
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte zu Beginn einer Sitzung des sogenannten Sicherheitskabinetts in Tel Aviv: «Seit heute Morgen befindet sich der Staat Israel im Krieg.» Das Land wurde nach Militärangaben auch offiziell in Kriegsbereitschaft versetzt, Tausende Reservisten einberufen. Die israelische Armee nannte ihre Verteidigungsaktion «Iron Swords» (Eisenschwerter). Ein israelischer Repräsentant warnte, die im Gazastreifen herrschende islamistische Palästinenserorganisation Hamas habe mit ihrem Großangriff auf Israel «die Tore zur Hölle» geöffnet.
Erstes Ziel sei nun, «das Gebiet von den feindlichen Truppen zu säubern, die eingedrungen sind», sagte Netanjahu. Die Hamas werde für die Attacke einen «immensen Preis» zahlen, kündigte er an. Außerdem sei es wichtig, weitere Fronten zu sichern, «damit niemand den Fehler begeht, in diesen Krieg einzutreten». Israels Armee sicherte vor allem die Nordgrenze aus Sorge vor einem möglichen Angriff der libanesischen Hisbollah-Miliz.
Als eine Reaktion auf den Angriff mit 2220 Raketen bombardierten israelische Kampfflugzeuge Hamas-Ziele im Gazastreifen. Dabei wurden laut Gesundheitsministerium in Gaza rund 200 Menschen getötet.
Hamas kündigt Militäroperation an
Die von der EU, den USA und Israel als Terrororganisation eingestufte Hamas sprach von einer «Militäroperation» gegen Israel. Militärchef Mohammed Deif sagte, man habe beschlossen, israelischen Verbrechen – wie er es nannte – ein Ende zu setzen.
Deif gilt seit Jahrzehnten als «Phantom». Israel hatte nach Medienberichten immer wieder vergeblich versucht, ihn zu töten. Im Gaza-Krieg 2014 hatte das israelische Militär Deifs Haus angegriffen und dabei seine Frau und seinen kleinen Sohn getötet. Deif selbst konnte damals entkommen.
Stundenlange Raketenangriffe
Wegen der Raketenangriffe heulten in verschiedenen Städten Israels immer wieder die Warnsirenen, wie die Armee mitteilte. Auch in Tel Aviv und Jerusalem war mehrmals Raketenalarm zu hören. In Tel Aviv wurde ein Haus getroffen. Das Militär rief die Einwohner der südlichen und zentralen Landesteile auf, in geschützten Bereichen zu bleiben. Verteidigungsminister Joav Galant erklärte eine besondere Sicherheitslage im Umkreis von bis zu 80 Kilometern vom Gazastreifen.
International vor allem Solidarität mit Israel
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel verurteilten den Angriff. Die Vereinigten Staaten stellten sich klar an die Seite Israels.
Der Iran gratulierte der Hamas dagegen und sprach von einem «Wendepunkt» des bewaffneten Widerstands gegen Israel.
Zuletzt wieder gewaltsame Proteste an der Gaza-Grenze
Die offenbar länger vorbereiteten Attacken aus dem Gazastreifen kamen für Israel unerwartet. Die israelische Armee war davon ausgegangen, dass die Hamas gegenwärtig kein Interesse an einem neuen Waffengang hat. Nicht zuletzt, weil mehrere Kriege mit Israel in den vergangenen 15 Jahren verheerende Auswirkungen auch für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen hatten.
Im Gazastreifen leben mehr als zwei Millionen Menschen nach UN-Angaben unter sehr schlechten Bedingungen. Die Hamas hatte 2007 gewaltsam die alleinige Macht an sich gerissen. Israel verschärfte daraufhin eine Blockade des Küstengebiets, die von Ägypten mitgetragen wird.
An der Gaza-Grenze war es im vergangenen Monat wieder mehrfach zu gewaltsamen Protesten gekommen. Dabei wurden Sprengsätze auf Soldaten geworfen, mehrere Palästinenser wurden durch Schüsse verletzt. Die israelische Luftwaffe griff wegen der Vorfälle Hamas-Posten an.
Angespannte Lage im Westjordanland als Ablenkung
Dennoch lag das Augenmerk des israelischen Militärs vor allem auf dem besetzten Westjordanland, wo die Lage sich zuletzt weiter zugespitzt hatte. Seit Donnerstag waren dort vier Palästinenser bei eigenen Anschlägen oder Konfrontationen mit der Armee getötet worden.
Die Sicherheitslage in Israel und dem Westjordanland ist seit etwa eineinhalb Jahren sehr angespannt. Seit Jahresbeginn wurden 27 Israelis, eine Ukrainerin und ein Italiener bei Anschlägen getötet. Im selben Zeitraum kamen mehr als 200 Palästinenser bei israelischen Militäreinsätzen, Konfrontationen oder nach eigenen Anschlägen um.
Streit über Justizreform spaltete Israel
Seit Jahresbeginn kommt es in Israel zu massiven Protesten gegen einen Justizumbau, den Netanjahus rechts-religiöse Regierung vorantreibt. Der bittere Streit führte zur Spaltung der Gesellschaft, teilweise auch von Familien. Ein bekannter israelischer Journalist schrieb zu der Überraschung durch den Hamas-Großangriff in einem X-Post: «Wir sind schuld.» Israel sei zu beschäftigt mit internen Streitigkeiten gewesen. «Und wir haben die Raubtiere im Dschungel um uns herum vergessen.» Eine für Samstagabend in Tel Aviv geplante Großkundgebung gegen die Justizreform – die 40. Woche in Folge – wurde angesichts der Sicherheitslage abgesagt.
Genau 50 Jahre nach Trauma des Jom-Kippur-Kriegs
Als besonders symbolisch galt, dass der Hamas-Überraschungsangriff genau 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg von 1973 erfolgte. Der damalige überraschende Angriff feindlicher arabischer Staaten auf Israel am höchsten jüdischen Feiertag galt bisher als das schwerste nationale Trauma des Landes. Doch auch die demütigende Hamas-Attacke dürfte als tiefe Zäsur in die Geschichte Israels und der Region eingehen.