Als in Genua vor genau fünf Jahren ein Stück einer Autobahnbrücke zusammenkrachte, gingen die Bilder der Zerstörung aus der italienischen Hafenstadt um die Welt. Der verheerende Einsturz am 14. August 2018, der 35 Autos und drei Lastwagen mit sich riss, forderte 43 Menschenleben – Hunderte, die unter der Brücke wohnten, wurden auf einen Schlag obdachlos. 2023 gibt es zwar eine neue Brücke und ein Denkmal, doch das Leben in dem Viertel ist trist. Die Angehörigen der Opfer warten noch immer auf die Justiz.
Über die genauen Umstände und die Verantwortlichkeit für das Unglück an der Morandi-Brücke (bezeichnet nach dem Bauingenieur Riccardo Morandi (1902-1989)) wird bis heute vor Gericht gestritten.
Die mutmaßlich Verantwortlichen sprachen lange Zeit von der «Unwägbarkeit des Schicksals» oder beriefen sich auf ein Unwetter, das zum Zeitpunkt des Einsturzes über die Stadt fegte.
Die Einsturzgefahr war lange bekannt
Experten sind sich sicher, dass der Grund für den Zusammenbruch Schäden waren, die wegen ausgebliebener oder mangelhafter Wartungsarbeiten nicht entdeckt worden waren. Nur so lasse sich das Unglück erklären. Offenbar war auch den Betreibern der Brücke schon lange bekannt, dass eine Einsturzgefahr bestand.
Die Angehörigen der Opfer sind angesichts des zähen Kampfes vor Gericht fassungslos. Erst knapp vier Jahre nach der Katastrophe um die Morandi-Brücke begann der Prozess im Juli 2022. 59 Angeklagte gibt es, die sich in dem Prozess gegenseitig Verantwortung zuschieben.
Es gibt nur eine provisorische Gedenkstätte
Egle Possetti, die Sprecherin des Opferverbandes, fürchtet zwar, dass es «so wie immer in Italien enden wird – ohne Verantwortliche», wie sie der Zeitung «La Stampa» sagte. Doch sie will die Hoffnung nicht aufgeben. «Nein, wir geben nicht nach, wir hören nicht auf!»
Für sie war es ein langer Kampf, dass es überhaupt zu einem großen Prozess kam. «Es gibt so viel Bitterkeit und ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit», sagt Possetti. In dem Prozess soll geklärt werden, inwiefern der Einsturz hätte verhindert werden können. Angeklagt sind beispielsweise Fachleute und frühere Führungskräfte der Firma, die für die Wartungsarbeiten zuständig war, Ex-Mitarbeiter des Infrastruktur-Ministeriums und Behörden-Funktionäre.
Die 1182 Meter lange Schrägseilbrücke war 1967 erbaut worden und führte über das Polcevera-Tal, das sich über das Stadtgebiet von Genua erstreckt. Daher auch der offizielle Name Polcevera-Viadukt.
Seit 2018 ist viel passiert. Ein halbes Jahr nach der Tragödie wurden die Überreste der Brücke abgerissen. Unter der Federführung von Star-Architekt Renzo Piano begann knapp ein Jahr danach offiziell der Bau einer neuen Brücke, die über das Tal führt. Im August 2020 wurde sie unter dem Namen San-Giorgio-Brücke feierlich eingeweiht.
Auch dort, wo einst die Menschen ihre Häuser verlassen mussten und obdachlos wurden, hat sich einiges verändert. Mehrere Wohnblöcke mussten nach dem Einsturz abgerissen werden. Auf dem Areal unter der Brücke arbeitet die Stadt noch immer an einer würdevollen Gestaltung.
Bisher wurde die provisorische Gedenkstätte «Radura della Memoria» (Lichtung der Erinnerung) und ein Spielplatz mit Schaukeln und einer Skateanlage gebaut. Das Herzstück ist eine Installation mit einem Holzpodest und 43 Bäumen – ein Baum für jedes Todesopfer. Es herrscht jedoch Leere und Tristesse. Die große Anlage «Parco del Ponte» mit der endgültigen Gedenkstätte steht noch aus.
«Gier und Inkompetenz»
Fünf Jahre nach der Katastrophe blicken Beobachter und Angehörige gebannt auf den Prozess. In einer Anhörung im Mai sagte ein Zeuge, der viele Jahre Vorstandsvorsitzender des Unternehmens Edizione aus der Benetton-Holding war, die zum Zeitpunkt der Tragödie auch den Autobahnbetreiber Autostrade per l’Italia (Aspi) kontrollierte, dass es schon seit 2010 Zweifel an der Stabilität der Brücke gegeben habe, die jedoch ignoriert worden seien. Er habe Angst um seinen Arbeitsplatz gehabt und daher nicht gehandelt.
Für Opferverbandsprecherin Possetti ist klar, dass der Brückeneinsturz aus «Gier und Inkompetenz» resultierte. Sie macht auch dem Staat schwere Vorwürfe, der ihren Worten zufolge nicht wachsam gewesen sei. «Ich frage mich, wie manche Leute nachts schlafen können.» Sie verstehe nicht, wieso Menschen, die von der Instabilität wussten, nichts sagten. Sie vermutet Profitgier.
Ob und (wenn ja) wann die juristische Aufarbeitung Gerechtigkeit bringt, ist unklar. Possetti glaubt, es gebe unter den Angeklagten und mutmaßlichen Verantwortlichen eine «Omertà» – eine mafiaartige Schweigepflicht. Possetti und ihrer Mitstreiter wollen jedoch entschlossen Druck machen. «Wir leben für die Gerechtigkeit, erst dann werden wir ein wenig erleichtert sein.»