Durch seine strenge Abschiebungspolitik, rigide Vorgaben und überlastete Ausländerbehörden verschärft die deutsche Politik aus Sicht des Flüchtlingsrats die teils dramatische Lage auf dem Arbeitsmarkt. Auch riskiere sie den Ruf des Landes bei einwanderungswilligen Fachkräften, sagte die Co-Geschäftsführerin des baden-württembergischen Vereins, Anja Bartel.
«Es ist total absurd, dass angesichts des Mangels nicht nur an Fachkräften, sondern allgemein an Arbeitskräften, Menschen vom Arbeitsplatz abgeschoben werden», kritisierte sie. Viele von ihnen hielten sich schon seit Jahren in Baden-Württemberg auf und seien fester Bestandteil der Gesellschaft.
Die Politik verfalle zudem nach wie vor dem Irrglauben, die Bedingungen für Geflüchtete dürften nicht zu gut sein, um keine Anreize zur Flucht zu bieten. Die schlechte Unterbringungslage und die «Katastrophenrhetorik mancher Kommunen» heizten dieses Denken an. «Das aber führt dazu, dass Deutschland ein eher unattraktives Land für Einwanderer wird», sagte Bartel der Deutschen Presse-Agentur dpa.
Bei annähernder Vollbeschäftigung bleiben viele offene Stellen unbesetzt. Zudem scheiden die sogenannten Baby-Boomer – also die geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1969 – allmählich aus. Nach Prognosen des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags könnten 2035 im Südwesten bis zu 903.000 Fachkräfte fehlen.
Nach Angaben des Migrationsministeriums kamen im vergangenen Jahr allerdings auch rund 28.000 Asylsuchende nach Baden-Württemberg. Das waren deutlich mehr als in den Vorjahren. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 zählten die Behörden laut Ministerium rund 14.220 geflohene Menschen. Mehr als 70 Prozent der Menschen, deren Asylgründe geprüft werden, erhalten laut Flüchtlingsrat Schutz in Deutschland. Hinzu kommen Zehntausende, die seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 Schutz in Deutschland suchen – vor allem Frauen und Kinder. Sie müssen keinen Asylantrag stellen.
Für die Politik werde es höchste Zeit umzudenken, sagte Bartel. «Denn auch die, die keine Geflüchteten sind und hier arbeiten wollen, erfahren ja, dass Probleme nicht angegangen werden», ergänzte sie. «Sie bekommen auch mit, dass wir uns viel zu wenig mit Rassismus auseinandersetzen und Menschen häufig ihr Leben lang das Stigma des Flüchtlings mit sich tragen müssen.» Gerade die gesellschaftliche Diskriminierung werde es auf Dauer verhindern, dass sich gute Fachkräfte bewusst für Deutschland als Arbeitsheimat entschieden.
«Auch hoch qualifizierte Geflüchtete verlassen Deutschland irgendwann, weil sie in anderen Ländern einfach bessere Arbeitsmöglichkeiten haben. Ganz, ganz pragmatisch», warnte auch die Flüchtlingsrats-Vorsitzende Lucia Braß. Deshalb müsse auch die Wirtschaft mangels politischer Entscheidungskraft umdenken und den Druck erhöhen, forderte sie weiter. «Die Wirtschaft ist vor allem auch in Baden-Württemberg ein starker Player, das Thema noch mal vehementer einzubringen. Da muss mehr Druck kommen von der Wirtschaft, da ist noch Potenzial», sagte Braß.
Unternehmerinnen und Unternehmer erkundigten sich oft beim Verein, wenn es um Arbeitserlaubnisse oder Umzüge gehe. Vor allem die Wohnsitzauflage erschwere die Suche nach einem Ausbildungsplatz. «Da merken wir einen extremen Frust unter Arbeitgeberinnen und -gebern, die gerade angesichts des Fachkräfte-Einwanderungsmangels kein Verständnis haben», sagte Braß. Außerdem beschwerten sich Unternehmer immer wieder, dass es in den völlig unterbesetzten Behörden ewig lange dauere, bis eine Arbeitserlaubnis erteilt werde.
Aus Sicht des Flüchtlingsrates muss Deutschland vor allem flexibler agieren. Das gelte unter anderem für die Sprachkenntnisse, mit denen Menschen aus dem Ausland einreisten oder flüchteten. «Ist es wirklich nötig, dass man erst die Sprachkenntnisse auf dem Papier hat und dann überhaupt die Chance hat zu arbeiten?», fragte Bartel. Es könne auch mit rudimentären Sprachkenntnissen in bestimmte Bereiche eingestiegen werden. Sprachkenntnisse ließen sich dann durch das Arbeiten und den Austausch mit deutschsprachigen Kolleginnen verbessern.
Gerade der Fachkräftemangel könne das Land allerdings zwangsläufig zwingen, das System zu flexibilisieren. «Dann können Behörden und Politik einfach nicht mehr ewig auf das Einhalten irgendwelcher formellen Vorschriften oder Papieren pochen», sagte Bartel.