Finanzminister Christian Lindner hat eine Debatte über die inhaltliche Gestaltung der Kindergrundsicherung angestoßen. Von Kinderarmut seien vor allem Familien betroffen, die seit 2015 nach Deutschland eingewandert seien, behauptete der FDP-Politiker.
Sind seine Aussagen korrekt? Und ist es sinnvoll, bei der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen nach Nationalitäten zu unterscheiden? Lindners Aussagen im Faktencheck.
Behauptung: «In Deutschland ist die Kinderarmut deutlich zurückgegangen (…) bei den ursprünglich deutschen Familien, die schon länger hier sind.»
Fakten: Das stimmt. Auf eine Kleine Anfrage der AfD im Bundestag hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) für die Jahre 2010, 2015, 2020, 2022 zusammengestellt, wie viele Kinder und Jugendliche mit deutschem Pass Regelleistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch erhielten – also Hartz IV beziehungsweise Bürgergeld. Die Zahl sank in dieser Zeit von rund 1,37 Millionen im Dezember 2010 auf rund 895.000 im Dezember 2022. Der Wert für März 2023 liegt nach BA-Angaben bei rund 1,02 Millionen.
Behauptung: «Insgesamt ist in Deutschland die Kinderarmut aber vergleichsweise und – wie ich finde – indiskutabel hoch wegen der Familien, die seit 2015 neu nach Deutschland eingewandert sind als Geflüchtete oder aus anderen Gründen.»
Fakten: Die Entwicklung verlangt für Experten seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine eine differenzierte Betrachtung. Korrekt ist: Nach den Recherchen der Bundesagentur für Arbeit (BA) sind die Zahlen der ausländischen Kinder mit Hartz IV oder Bürgergeld gestiegen. Im Dezember 2010 lag ihre Zahl bei rund 305.000, im Dezember 2022 waren es rund 884.000. Nach Angaben der BA erhielten im März 2023 als größte Gruppe rund 275.500 ukrainische Kinder und Jugendliche Bürgergeld. Die mit Abstand zweitgrößte Gruppe waren mit rund 213.400 Beziehern Kinder und Jugendliche aus Syrien.
«Es ist richtig, dass durch den Krieg in der Ukraine seit 2022 die Grundsicherung nach SGB II für Kinder und Jugendliche in Deutschland weiter gestiegen ist», sagt Anette Stein, familienpolitische Expertin der Bertelsmann Stiftung. «Denn diese Geflüchteten haben anders als andere sofort Zugang zu den deutschen Sozialsystemen bekommen.» Das gelte aber nicht generell für Zuwanderung. «Alle diese Zahlen undifferenziert zusammenzuführen, gleicht dem Werfen einer Nebelkerze», sagt Stein.
Behauptung: «Es gibt also einen ganz klaren statistischen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut.»
Fakten: Die Bertelsmann Stiftung bezweifelt das. Sie hat im Januar eine umfangreiche Studie zum Thema vorgelegt. «Kinderarmut in Deutschland ist seit Jahrzehnten ein strukturelles Problem, das nicht in erster Linie mit Zuwanderung zu tun hat», sagt Stiftungs-Expertin Stein. «Von Kinderarmut betroffen sind oft Alleinerziehende und Familien mit drei oder mehr Kindern.»
Vollzeitjobs, die eine Familie ernährten, seien aber kaum möglich, wenn immer noch 400.000 Kita-Plätze in Deutschland fehlten. Es sei auch unerheblich, aus welchem Land Kinder stammten, ergänzte Stein. «Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben. Danach steht jedem Kind soziale und kulturelle Teilhabe zu. Es ist eine befremdliche Diskussion, wenn Politiker dabei jetzt nach Herkunft unterscheiden.»
Job-Experten verweisen darauf, dass es bei geflüchteten Eltern allein schon durch den Erwerb von Sprachkenntnissen dauere, bis sie im Arbeitsmarkt Fuß fassen könnten und weniger staatliche Unterstützung für ihre Familien benötigten. 54 Prozent der 2015 nach Deutschland Geflüchteten waren im Jahr 2021 erwerbstätig, ermittelte das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Ende Juli. Von den Erwachsenen, die aus der Ukraine flohen, arbeitete nach einem Jahr mehr als ein Viertel (28 Prozent), heißt es vom Institut. Das sei schnell und viel. Anders als andere Geflüchtete hatten Ukrainer aber auch sofort eine Arbeitserlaubnis.
Lindner fragte sich am Sonntag auch, wie Kinder am besten unterstützt werden könnten: «Hilft man ihnen am besten dadurch, dass man den Eltern mehr Geld aufs Konto überweist? Oder ist nicht vielleicht mindestens diskussionswürdig, in die Sprachförderung, Integration, Beschäftigungsfähigkeit der Eltern zu investieren und die Kitas und Schulen für die Kinder so auszustatten, dass sie vielleicht das aufholen können, was die Eltern nicht leisten können?»
Darauf antwortet Anette Stein von der Bertelsmann-Stiftung: «Es ist nicht sinnvoll, darüber nachzudenken, ob finanzielle Hilfen entweder in Kitas und Schulen oder an die Eltern fließen sollen. Denn Kinder brauchen beides: Gute Kitas, gute Schulen und Familien, die sie fördern.» Die Stiftung geht davon aus, dass rund drei Millionen Kinder in Deutschland von Armut bedroht sind. «Eingerechnet haben wir auch verdeckte Armut, weil Hilfen aus Scham nicht angenommen werden, es bürokratische Hürden gibt oder weil Familien nicht genug darüber wissen», sagt Stein.