„Eigentlich ist das Leben zu kurz, um Deutsch zu lernen.“
Mohamad Hourias Finger tanzen über die Tastatur. Er klickte sich mit gleichmäßigem Stakkato durch eine Reihe von Dokumenten, eine lange Zahlenreihe erstreckte sich über den Computerbildschirm. „In einer Minute ist es vorbei“, flüsterte eine Frauenstimme im Hintergrund. Nicht geeignet für Julia. Er wird nicht gehen, bis die Arbeit erledigt ist – und es gibt noch viel zu tun.
Houria rückte ihre Brille zurecht. Auf dem Nebentisch stapeln sich Büromaterialien, neben leeren Sandwichtüten stehen Kaffeetassen. Bei Julia herrschte jedoch Ordnung. Er beugte sich vor und runzelte die Augenbrauen. Dann versetzt er den Computer mit einem kurzen Mausklick in den Ruhezustand, dann dreht er sich um: „Raucherpause?“
Hourias Arbeitsplatz befindet sich im sechsten Stock der GASAG AG in Schöneberg, Berlin. Der 26-jährige Syrer arbeitet seit 2020 als Buchhalter in der Finanzabteilung des Energiekonzerns. Die Aufgabe ist einfach zu erledigen. „Er ist seriös und vor allem schnell“, sagte seine Chefin Stephanie Ranneberg. Wenn Julia im Urlaub ist, fällt das sofort auf. „Dann wird alles länger dauern.“ Ihm einen festen Vertrag zu verschaffen, werde nicht einfach sein. Aber am Ende hat es funktioniert. „Wir freuen uns sehr, ihn bei uns zu haben“, sagte Ranneberg.
Internationale Auszubildende bei der GASAG
Als einer der größten Fernenergieversorger der Stadt beschäftigt die GASAG-Gruppe rund 1.700 Mitarbeiter. Hulia ist eine von ihnen. Genauer gesagt war er einer von sechs. In den Jahren 2016 und 2017 bot das Berliner Unternehmen spezielle Schulungsprogramme für Menschen mit Fluchterfahrung an. „Während der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 fühlten wir uns als Unternehmen in der Verantwortung zu helfen“, erinnert sich Carolin Marggraff. Sie ist seit 2003 bei der GASAG beschäftigt und leitet das Team „Recruiting und Employer Branding“. „Einige Kollegen helfen während der Arbeitszeit in Flüchtlingsunterkünften.“ Gleichzeitig stellte sich für das Management die Frage, wie die Integration von Schulungsprozessen aussehen könnte: Was könnte das Unternehmen erreichen? Was ist realistisch und wirklich hilfreich?
Das Modell startete 2016 mit den ersten drei Auszubildenden. Für die Auswahl hat sich das Unternehmen viel Zeit genommen, zahlreiche Bewerbungen gesichtet und ausführliche Gespräche geführt. Nach zweiwöchigem Praktikum gewann Hulia zusammen mit einem Iraner und einem Afghanen den Wettbewerb und begann eine Ausbildung zur Industriekauffrau.
„Der Schlüssel zu einem Land ist die Sprache“
Houria stand mit hochgezogenen Schultern, zitternd im überdachten Empfangsbereich der GASAG und zog an ihrer E-Zigarette. Auf dem kleinen Glasbehälter steht Pfirsicheis. Houria grinste: „Niemand weiß genau, ob es wirklich gesünder ist als normale Zigaretten. Aber zumindest stinkt es nicht und man kratzt nicht so sehr im Hals.“ Houria spricht sehr gut Deutsch. Hin und wieder hielt er inne, um nach den richtigen Worten zu suchen. Manchmal kann der Satzbau etwas verwirrend sein. Dann lächelte er entschuldigend. Eine Freundin sagte einmal: „Eigentlich ist das Leben zu kurz, um Deutsch zu lernen.“ Hulia hat es jedenfalls geschafft. Der Weg dorthin ist alles andere als glatt.
Houria wuchs in Syrien als eines von fünf Kindern auf. Im Alter von sechs Jahren begann er zu arbeiten und sammelte Geld von Fahrgästen im Bus seines Vaters. Später half er in einem Friseursalon, arbeitete in einer Schneiderei und einem Logistikunternehmen. Im Alter von 18 Jahren schloss Houria die High School ab und begann zu studieren. Aber in Syrien herrscht Krieg. Huria und seine Brüder flohen nach Türkiye. Das Leben dort war schwierig und ein Bleiben war keine Option. Sie wagten es, quer durch Griechenland zu segeln. „Es war schrecklich“, erinnert sich Huria. Die Brüder reisten zu Fuß und mit der Bahn nach Deutschland und strandeten schließlich in Berlin.
Hurria verlor schnell die Hoffnung auf eine bessere Zeit. „Die schwierigste Phase begann eigentlich gleich nach unserer Ankunft“, sagte er leise. Hulia lebt seit mehr als einem Jahr im Fitnessstudio. Er deckte sein zugewiesenes Bett vorsichtig mit einem Laken zu. „Es war wie in einem kleinen Zelt.“ Monate vergingen in einem Gewirr von Verwaltungsabläufen und bürokratischem Jargon. Endlich kann sich Houria für Integrationskurse anmelden. Bald erkannte er: „Der Schlüssel zu einem Land ist die Sprache.“ Also studierte er.
GASAG unterstützt Studierende auch mit individuellen Deutschkursen. „Deutsch lernen ist das Wichtigste“, betont Personalleiterin Marggraff. Von Zentrumskursen über Gruppenseminare bis hin zu Abendkursen: Das Unternehmen lässt nichts unversucht, um sich schnellstmöglich zu verbessern. „Zusätzlich zur Sprachbarriere stehen unsere Auszubildenden vor einem unglaublichen Bürokratie-Dschungel“, sagte sie. „Aufenthaltserlaubnis, Gerichtstermine, Asylverfahren – wir tun alles, um unsere Auszubildenden zu unterstützen.“
Fortschritte bei der Arbeitsmarktintegration
Das GASAG-Programm ist ein Erfolg. Alle sechs Teilnehmer haben die Schulung abgeschlossen, zwei von ihnen sind noch heute im Unternehmen tätig. Nach der Übernahme war Huria nicht mehr nur einer der sechs. Er ist auch einer von etwa 559.000 Menschen. Eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmärkte und Berufe zeigt: Rund 559.000 Menschen oder 54 %, die 2015 nach Deutschland geflohen sind, haben im Jahr 2021 eine Arbeit gefunden. Bei einer Verlängerung des Aufenthalts um ein Jahr steigt der Wert sogar auf 57 %.
Für Wido Geis-Thöne sind diese Zahlen ein Beleg für eine positive Entwicklung. „Wir sehen enorme Fortschritte bei der Arbeitsmarktintegration“, sagte der leitende Ökonom für Familienpolitik und Migration am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung gegenüber ntv.de. Sprachliche Anforderungen und die Unsicherheit über den Verbleib im Prozess erschweren den Prozess jedoch weiterhin schwierig.
„Dazu braucht es den Willen und das Engagement der einzelnen Unternehmen“, bestätigt Marggraff, Personalleiterin der GASAG. Gesetzesreformen, die nach langwierigen Verfahren kaum Erleichterung bringen, reichen nicht aus. Die Flüchtlingseinwanderung allein wird den Fachkräftemangel in Deutschland nicht lösen. „Aber unser Projekt ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich die Investition dennoch lohnt.“ Eine weitere Umsetzung des Ausbildungsmodells sei derzeit nicht geplant, das Unternehmen sei aber jederzeit offen für Bewerbungen jeglicher Art.
Zurück im Büro hängte Houria ihre Jacke an die Stuhllehne und öffnete ihren Briefkasten. „Ich habe eine tolle Möglichkeit gefunden, E-Mails in wirklich schönem Deutsch zu schreiben“, sagte er. Dazu gibt er die notwendigen Begriffe in ChatGPT ein und der Chatbot liefert die formulierte Nachricht innerhalb von Sekunden. „Wissen, wie es geht“, sagte Julia mit einem Lächeln. Sicher ist, dass er bei der GASAG bleiben will. Andernfalls wird er nicht für die ferne Zukunft planen; selbst die Planung seines Urlaubs wird ihm Schwierigkeiten bereiten. Houria kann künftig ohne Einschränkungen reisen. Es ist zwei Monate her, seit er offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hat. „Das ist der Höhepunkt meines Jahres“, sagte er mit einem Lächeln.
Quelle: www.bild.de