Ukraine-Krieg - Der Rubel macht einen Umweg – warum die russische Wirtschaft trotz Sanktionen weiter wächst
Fast zwei Jahre nach dem Ukraine-Krieg ist die einzig verlässliche Vorhersage diese: Keine Vorhersage ist zuverlässig. Am frühen Morgen des 24. Februar 2022, dem Tag, an dem Russland die Ukraine angriff, glaubte niemand, dass es im Winter 2023 kein Ende des Todes an der Front geben würde. Es wird allgemein angenommen, dass Kiew innerhalb weniger Tage fallen wird, nachdem Hunderttausende Russen in Nachbarländer einmarschieren und auf die ukrainische Hauptstadt vorrücken. Wie kontern Verteidiger einen Nachbarn, der so mächtig zu sein scheint?
Aber Kiew ist nicht gefallen. Kiew behauptete sich. Darüber hinaus hat die Ukraine die Angreifer vielerorts erfolgreich abgewehrt. Als Cherson neun Monate später zurückerobert wurde, hatte Russland sogar einen Funken Hoffnung auf eine Niederlage. Plötzlich stellt sich nicht mehr die Frage, wie lange die Ukrainer durchhalten, sondern wie lange die Russen durchhalten. Einige optimistische Analysen deuten darauf hin, dass Moskau früher oder später die Soldaten, die politischen Freunde und vor allem das Geld ausgehen werden.
Heute, fast zwei Jahre nach der russischen Invasion, müssen wir schmerzlich zugeben, dass diese Vorhersagen Zeitverschwendung waren. Der Krieg schien in eine blutige Pattsituation geraten zu sein. Und Russland zeigt keine Anzeichen eines Bankrotts. Stattdessen behauptete Kremlchef Wladimir Putin am Dienstag in einer Videobotschaft bei einem Treffen des sogenannten Weltrats der russischen Völker unter der Schirmherrschaft der Russisch-Orthodoxen Kirche, dass „wir stärker werden“. Kirche. Er prahlte damit, dass Russland seine „Souveränität als Weltmacht“ gefestigt habe.
Aber ist das tatsächlich eine realistische Darstellung der Situation? Wie sieht die von Putin erstellte Bilanz aus?
Geteiltes Europa
Moskau soll Anfang Dezember 2021, kurz vor Beginn der Invasion, 550 Milliarden Euro an Gold- und Devisenreserven angehäuft haben. Putin hatte für Blitzsiege gespart, musste nun aber den Preis für Stellungskriege zahlen. Tatsächlich scheint ihm dies bisher ohne Probleme gelungen zu sein, vor allem dank der durchlässigen Sanktionspolitik des Westens. Daran würde auch das kürzlich verabschiedete 12. Strafpaket kaum etwas ändern. Der Grund ist derselbe wie schon elf Mal zuvor: Die EU-Staaten sind weiterhin uneinig darüber, ob und inwieweit sie auf Russland als Handelspartner verzichten können und wollen.
Vor allem ein Land zieht sich immer wieder aus der vielgepriesenen Ukrainischen Solidaritätsgemeinschaft zurück: Ungarn unter Machthaber Viktor Orban. Der Diktator hat keinen Hehl daraus gemacht, dass sein Land ideologisch weit mehr mit Moskau als mit Brüssel gemeinsam hat. Als Orban Putin Mitte Oktober in Peking die Hand schüttelte, verärgerte er in Brüssel viele, überraschte aber nur wenige. Mehr noch: Trotz des Sanktionsregimes hat Orban nicht davor zurückgeschreckt, weiterhin Geschäfte mit Russland zu machen. Kürzlich gab Budapest seinen Wunsch bekannt, mit Moskau beim Ausbau der Kernenergie zusammenzuarbeiten. „Das ist ihr Krieg, nicht unserer“, brachte es der Rechtspopulist auf den Punkt.
Russland umgeht Sanktionen – im wahrsten Sinne des Wortes
Doch das harte Sanktionsregime gegen Putin und seine Unterstützer ist bis an seine Grenzen ausgereizt, und das aus guten wirtschaftlichen Gründen. Die Europäische Union und die G7-Staaten haben bis zu 300 Milliarden Euro der Reserven der russischen Zentralbank eingefroren und Milliarden Euro auf den Konten von Oligarchen eingefroren. Es stellt sich jedoch heraus, dass die Geldversorgung in globalisierten Märkten nicht so einfach und vor allem nicht einseitig gekappt werden kann.
Allein durch den Verkauf von LNG an die EU soll das Moskauer Regime in diesem Jahr mehr als fünf Milliarden Euro verdient haben. Frankreich steigerte seine LNG-Importe aus Russland um 40 %, Spanien und Belgien verdoppelten sogar ihre Importe. Nur China, und Russland ist sowieso so ziemlich der beste Freund, ist ein größerer Käufer. In Washington haben sie offensichtlich genug. Anfang November verhängte US-Präsident Joe Biden harte Sanktionen gegen ein großes russisches Flüssigerdgasprojekt in der Arktis – trotz der Beteiligung europäischer Unternehmen wie des französischen Energiekonzerns Total Energy.
Vor allem aber ist das schwarze Gold der Treibstoff für die Militärmaschinerie. Im Jahr 2022 werden die russischen Öleinnahmen im Vergleich zum Vorjahr um 28 % steigen. Den EU-Ländern (außer Bulgarien) ist es seit einem Jahr völlig untersagt, russisches Öl auf dem Seeweg zu transportieren. Russland entzieht sich den Sanktionen. Buchstäblich. Vor Kriegsbeginn fuhren die Hälfte aller zwei Frachtschiffe, die russisches Öl transportierten, norwegische oder G7-Flaggen. Jetzt ist nicht einmal ein Viertel mehr übrig. Heute transportieren russische Energieriesen Rohöl über eine Schattenflotte nach Asien. Hunderte oft veraltete Frachtschiffe befahren die Weltmeere, die meisten unter afrikanischer Flagge. Christopher Weafer, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Macro-Advisory, erklärte: „Wenn europäische Behörden feststellen, dass ein Unternehmen oder ein Öltanker gegen Sanktionen verstoßen hat, kann sich der Name des Unternehmens oder sogar der Name des Öltankers relativ schnell ändern.“ „Europäische Nachrichten“.
Die Versicherung der angeblich oft unterwegs umgeladenen Ladung soll von Russland selbst übernommen worden sein, insbesondere von Indien und China. Als größte Abnehmer sind sie auch mit günstigen Rohstoffen zufrieden. Als Drittland raffinieren sie ihr Rohöl und verkaufen ihre „sauberen“ Produkte auf Weltmärkten, teilweise legal, auch nach Europa (Lesen Sie hier mehr über Russlands neue Geheimroute über die Weltmeere). Die tatsächliche Preisobergrenze von 60 US-Dollar pro Barrel war praktisch wirkungslos. Berichten zufolge verdiente Russland im Oktober sogar bis zu 80 US-Dollar pro Barrel – zusätzlich zu der Entscheidung der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC), die Produktion zu drosseln, aber auch wegen des Chaos im Nahen Osten.
Es herrschte ein gewisser Zynismus, als ein EU-Diplomat gegenüber Politico sagte, wir seien im Energiesektor „an dem Punkt angelangt, an dem wir uns selbst ins Bein schießen“. Es hat sich als undurchführbar erwiesen, Russland zu isolieren, ohne die wirtschaftlichen Interessen des Westens zu gefährden.
Putin finanziert Krieg, „indem er künftigem Geld vorenthält“
Während die russische Wirtschaft im Jahr 2022 zweifellos rückläufig sein wird, sind die Einschätzungen für 2023 ambivalent. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht einen Rückgang von 2,2 %. Allerdings prognostiziert der Internationale Währungsfonds ein Wachstum von 0,7 %. Natürlich spricht Putin davon, den Status Russlands als Weltmacht zu festigen. Die Frage ist jedoch, welche Position er für solide hält. Kanada, Frankreich, Indien und sogar Italien und Südkorea verzeichneten im Jahr 2020 alle ein höheres Bruttoinlandsprodukt (BIP).
Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass sich die russische Wirtschaft als weitaus widerstandsfähiger erwiesen hat als erwartet. Kurz nach Kriegsbeginn prognostizierte Biden, dass der Krieg halbiert werden würde. Stattdessen berechnete Janis Krueger, Russlandexperte der Stiftung für Wissenschaft und Politik, in Times Online, dass „die Wirtschaft jetzt größer ist als vor der Invasion“. Allerdings wies die finnische Ökonomin Laura Solanko gegenüber der New York Times darauf hin, dass das BIP während des Krieges „ein ziemlich dürftiges Maß für den Wohlstand“ sei. Denn obwohl die Rüstungsindustrie auf dem Papier Einnahmen in Milliardenhöhe erwirtschaftet, trägt sie nicht dazu bei, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern.
Denn 2024 könnte für Russland neue Chancen mit sich bringen: Zusammen mit Iran, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten, Äthiopien und Argentinien wird die BRICS-Allianz im neuen Jahr sieben neue Mitglieder gewinnen. Das Bündnis, dem bisher Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika angehören, soll einen geopolitischen und vor allem wirtschaftlichen Gegenpol zum Westen bilden. Was das bedeutet: Der Kreml hat viele potenzielle Handelspartner.
Der Kreml hat einen langen Atem – vorerst
Im nächsten Jahr wird fast ein Drittel des russischen Staatshaushalts für das Militär ausgegeben. Das entspricht 111 Milliarden Euro, fast dem Dreifachen der Verteidigungsausgaben der Ukraine. Bisher ist es Putin ohne großes Aufsehen gelungen, den Großteil der Kriegskosten auf andere Ressorts abzuwälzen. Die Militärausgaben stiegen sprunghaft an, während das Regime mehr Geld in Sozialhaushalte wie Renten pumpte, um die Unterstützung der Bevölkerung zu sichern. Aus den Töpfen Bildung, Gesundheit und Infrastruktur werden Zutaten geklaut. In einem Artikel der amerikanischen Denkfabrik „Wilson Center“ heißt es: „Putin finanziert den Krieg, indem er Gelder aus der Zukunft abzieht.“
Studien zeigen, dass ein großer Teil der russischen Bevölkerung weiterhin den Krieg unterstützt – vor allem, weil sich der Lebensstandard nicht wesentlich verschlechtert hat. Viele westliche Unternehmen, darunter McDonald's, Starbucks und Volkswagen, haben Russland den Rücken gekehrt. Der Ersatz stammt aus eigener Produktion – vor allem aber aus China.
Doch angesichts der zuletzt stark steigenden Inflation ist der langfristige Erfolg dieses Umbruchmanövers fraglich. Die Russen spüren dies in ihrem täglichen Leben – und es könnte Auswirkungen auf die bevorstehenden Wahlen im Frühjahr 2024 haben. Putin hat sich noch nicht offiziell für eine fünfte Amtszeit beworben. Aber bisher konnte er darauf vertrauen, dass das russische Volk bereit ist, über die Mängel der demokratischen Entscheidungsfindung zu diskutieren und diese zu ignorieren, solange der Präsident ihnen relativen Wohlstand garantiert. Wie sieht also Russlands „Weltmachtsouveränität“ aus? Wird es wirklich „stärker“, wie Putin behauptet? Die Antwort ist widersprüchlich: Wirtschaftlich hinkt Russland den Ambitionen seiner Herrscher weit hinterher. Doch trotz westlicher Sanktionen muss sich Putin kaum Sorgen machen, dass ihm das Geld ausgeht. Es ist kein Geheimnis, dass die Kremlführer eine ganz eigene Interpretation des Wortes „Souveränität“ haben.
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Quelle: www.stern.de