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Dekolonisierung: Überarbeitung der Erinnerung in Hamburg

Dekolonisierung: Überarbeitung der Erinnerung in Hamburg

Dekolonisierung: Überarbeitung der Erinnerung in Hamburg

Hier spiegelt sich wie in einem Wassertropfen die komplizierte Geschichte der Neubewertung der deutschen Vergangenheit und die Konzeptualisierung ihrer Zukunft im neuen Jahrhundert wider. Aber jetzt wird in dem Land über Dekolonisierung diskutiert.

Hamburg: Dekolonisierung

Während in Berlin Otto von Bismarck, der Bildhauer Reinhold Begas, nichts Schlimmes widerfährt und er triumphierend im Tiergarten auf dem Großer Stern-Platz für die Touristen glänzt, ist in Hamburg alles unklar. Oder klar, aber anders. Das Bismarck-Denkmal muss im Rahmen des Projekts “Hamburg dekolonisieren!” neu kontextualisiert werden – “Hamburg dekolonisieren!”

Im Großen und Ganzen ist unser Kanzler wohl eine Schlüsselfigur in der Geschichte Deutschlands während der Ära der imperialen Triumphe und Siege, die noch nicht allzu sehr von den begleitenden Schrecken und Unglücken überschattet ist. Ein Einiger des Landes, ein Reformer des Wahlrechts und des Sozialversicherungssystems… Die Figur ist heute jedoch kaum relevant, da sich Deutschland so sehr verändert hat und auf der Suche nach einer neuen Identität in der Welt ist.

Möglicherweise hat Lederer in seinem künstlerischen Meisterwerk zu Beginn des letzten Jahrhunderts eine allzu eindeutige Botschaft vermittelt. Bismarck wird von ihm als Reinkarnation oder Manifestation eines idealen Ritters des europäischen Mittelalters dargestellt, als Verteidiger der christlichen Zivilisation (obwohl er auch ein Hanseatischer Schutzpatron des freien Handels war). Die Statue ist dem hektischen Stadtleben abgewandt, Bismarcks Blick richtet sich nach Westen, seine Hände ruhen auf einem mächtigen Schwert.

Bismarck in Hamburg

Auch die Größe des Denkmals im Alten Elbpark lässt keine Wahl: Es wird als Verherrlichung der Stärke und beinahe als Symbol für die imperialen Ambitionen Deutschlands wahrgenommen. Dies ist das größte Bismarck-Denkmal. Der “Eiserne Kanzler” ist hier aus Stein. Ein Höhepunkt der imperialen Ästhetik: Ein Granitkoloss aus hundert Blöcken mit einem Gesamtgewicht von 625 Tonnen und einer Höhe von 34 Metern (mit Sockel, aber auch ohne Sockel immerhin 15 Meter!). Er steht auf einer ehemaligen Bastion der Stadtbefestigung und erhebt sich fast hundert Meter über die Elbe und den Hafen. Ein acht Meter langes Schwert ist das eine, und der Kopf des Kanzlers ist in etwa so groß wie ein menschliches Wachstum – 1,83 Meter.

Die Rolle Bismarcks und Dekolonisierung

Der Hamburger protestantische Pastor Ulrich Hentschel schlug vor, diesen Kopf zu fällen. “Es ist von äußerster Wichtigkeit, die Monumentalität und Stärke dieses Denkmals zu brechen. Schließlich sollte der alte Bismarck nicht länger in seiner heroischen Pose mit dem Hamburger Schwert dominieren.” Der Geistliche beschuldigte Bismarck der Kolonialpolitik in Afrika. “Es ist bekannt, dass er nach anfänglichem Zögern die deutsche Kolonialpolitik begründet hat. Auf der Konferenz in Berlin, die er einberief, stand er mit anderen über der Karte Afrikas und teilte den Kontinent wie eine Bande von Räubern unter sich auf.”

Die Rolle Bismarcks im deutschen Kolonialprojekt ist zweifellos umstritten. Aber der Pastor erinnerte auch an das Ausnahmegesetz gegen Sozialisten: “Bismarck verbot die Vorgängerorganisation der SPD. Dann wurden Tausende Sozialisten eingesperrt und verbannt.”

Bismarck wird auch für die Verfolgung von Katholiken und Homosexuellen in Erinnerung gerufen.

Die Leidenschaften brodeln schon seit vielen Jahren. Das Denkmal war eine Zeit lang verfallen. Den Kanzler beschmierten Graffiti gnadenlos. 2020, im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung und der weltweiten Entfernung von Denkmälern historisch zweifelhafter Persönlichkeiten, gab es Proteste gegen die Restaurierung des Denkmals. Die Aktivisten forderten bereits im letzten Jahrhundert seine Demontage. Während die Reparaturarbeiten leise voranschritten, veränderte sich die öffentliche Meinung, und es wurde über die Zukunft der Skulptur diskutiert. Die städtischen Behörden sprachen sich gegen die Demontage aus.

Das ist richtig so, Erinnerung sollte nicht abgeschafft, sondern korrigiert werden. Bereits 2014 stimmte die Stadt zu, dass ein so bedeutendes Gebäude mit problematischer Geschichte nicht einfach in der städtischen Landschaft stehen bleiben kann, sondern dass das koloniale Erbe neu aufgearbeitet und künstlerische Interventionen durchgeführt werden müssen.

2015 krönte eine Gruppe österreichischer Künstler Bismarcks Kopf mit einer Statue einer alpinen Ziege. Dies war eine vorübergehende Performance. Der endgültige Rekontextualisierungsprozess wird wahrscheinlich nicht so banal sein.

Die stillschweigenden Bezüge auf ideologische Relikte des Kolonialismus, des Nationalsozialismus und der Diskriminierung, die im Denkmal enthalten sind, müssen im Einklang mit den Idealen der Demokratie und des Pluralismus in einer offenen Gesellschaft verarbeitet werden. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, um künstlerische Ideen zur Neukonzeption des Denkmals zu finden. “Es ist wichtig, zeitgenössische Formen von Gegenmonumenten, Postmonumenten oder Interventionen zu finden, die eine Antwort auf die massenhafte Präsenz und emotionale Wirkung des monumentalen Denkmals geben”, hieß es in den Wettbewerbsunterlagen. Von Lichtinstallationen bis hin zu einer Art Christo-Vorhang – ein maximal starker Entfremdungseffekt ist erforderlich, ohne dass am geschützten Objekt selbst oder an der umgebenden Natur Schaden entsteht. Die Arbeit mit der Geschichte, die Analyse des Denkmals als Bauwerk und Kunstwerk, das Betrachten Bismarcks als eine Figur, die sich mit, aber auch als Gegenfigur identifiziert – all das gibt Anlass zum Nachdenken.

Nach Angaben des Kultursenators Karsten Brosda ist der Wettbewerb “der spürbarste Prozess in der Stadt zur Arbeit am kolonialen Erbe”: “Ich freue mich auf die künstlerische Auseinandersetzung mit der komplexen Persönlichkeit Bismarcks und ihrer Bedeutung für unsere Geschichte… Nur wenn wir unsere Geschichte verstehen, können wir daraus Lehren für die Zukunft ziehen.”

Dekolonisierung und Lederer: Ruf angekratzt?

Der Bildhauer Hugo Lederer ist eine nicht weniger widersprüchliche Figur als Bismarck. Er ist ebenfalls in gewisser Weise ein Denkmal, das eine sinnvolle Betrachtung erfordert. Aber in einem etwas anderen Kontext.

Ein herausragender Meister, ja. Lederer in Berlin und an einigen anderen Orten ist keine Seltenheit. Zum Beispiel in der Innenstadt von Berlin, auf dem Breitscheidplatz, steht sein Bärenbrunnen, die Bärenmutter mit ihren Jungen. Eine Apologie der Mutterschaft mit Bezug auf das städtische Totem.

Bärenbrunnen

Aber seine eigene künstlerische Art enthielt eine zeitliche Bombe. Dies ist eine Apologie der abgeschlossenen, festen, einfachen und erhabenen Form. Die Unerschütterlichkeit einfacher Tugenden, die Unveränderlichkeit der Ruhe – all das passt nicht so recht in die moderne, dynamische, vielfältige und nervöse Welt.

Wie ein seiner Apologeten schrieb, “Lederers Skulpturen sind keine Nachahmungen der Natur oder Definitionen zufälliger visueller Eindrücke, sondern eigenständige Symbole des hohen Ideals der körperlichen Existenz, geschaffen aus absoluter skulpturaler Vorstellungskraft und Kenntnis der skulpturalen Architektur.”

So ist sein Bismarck. So ist auch sein monumentales Berliner Denkmal: der mehrfigurige Porphyrbrunnen, die Quelle der Fruchtbarkeit, der Rosengranitblock auf dem Arnswalder Platz. Vier Symbole der Fruchtbarkeit – eine Mutter mit einem Kind, ein Fischer mit einem Fischfang, eine Erntearbeiterin mit einem Bündel Ähren und ein Hirte mit einem Schaf.

Fruchtbarkeitsbrunnen

Die in den Figuren verkörperte Idee der Fruchtbarkeit, die die Arbeitsmoral und die Produktivkräfte ausdrücken, wird immer noch schwer politisiert. Daher steht das Denkmal in Berlin friedlich. Einige Politiker nennen es aus Rücksicht auf die Gänse volkstümlich “Stierbrunnen”: Zwei Bullen dominieren wirklich in Lederers Komposition.

Fruchtbarkeitsbrunnen

Lederer und Nationalsozialisten

Es gab viele Diskussionen über die Verbindung von Lederer zu den Nationalsozialisten. Aber der rücksichtslose Übereinkommensmacher und aktive Agent der Nation im Kunst war eher sein dummer Sohn. Lederer selbst hat sich bewusst von politischer Aktivität zurückgehalten, oder… Möglicherweise verhinderten seine Krankheiten übermäßiges Engagement.

Die nationalsozialistischen Führer haben Lederer jedenfalls nicht besonders herzlich aufgenommen.

Obwohl es von weitem seltsam ist, wie sich der alte Mann darüber freute, dass seine Lieblingsskulptur (wirklich bezaubernd) die Blicke der Führer im Garten des Reichskanzleramtes erfreute. Es handelte sich um “Anna Pawlowna mit einem Rehkitz”.

Fruchtbarkeitsbrunnen

Und man kann Lederer zu Recht als einen künstlerischen Vorläufer der nationalsozialistischen Plastik von Thorak betrachten. Allerdings behinderten seine Appelle an die harmonische Antike hier eher. Er war zu retrospektiv, zu wenig futuristisch, um sich nahtlos in das Kunstprojekt des Dritten Reiches einzufügen.

Der Höhepunkt von Lederers künstlerischer Erfolg waren sicherlich die 1920er Jahre, die “Weimarer” Jahre. Eines seiner wichtigsten künstlerischen Statement ist das Denkmal für Heinrich Heine in Hamburg, das von den Nationalsozialisten zerstört wurde. (Das Denkmal wurde mittlerweile wieder errichtet, aber der moderne Bildhauer, Waldemar Otto, ging recht frei mit Lederers künstlerischem Konzept um.)

Ein weiteres beliebtes Motiv von Lederer war der nackte Fechter. Zum ersten Mal von einem jungen Lederer in Breslau geschaffen. Mit dieser Skulptur, die noch heute auf dem Universitätsplatz von Breslau steht, ist eine wenig glaubwürdige Anekdote verbunden. Angeblich kam Hugo Lederer als junger Mann, gut gekleidet und in reichen Gewändern, um bei dem damals berühmten Bildhauer Berens zu studieren; er war ein Fremder, gekleidet in prächtiger Kleidung. Und die örtlichen Studenten, damals noch wilde Jungs, erkannten, dass seine prächtige Kleidung ihren spärlichen Kleiderschrank aufwerten könnte. Nach einer fröhlichen Feier schlugen sie vor, Karten zu spielen, und Hugo verlor am Abend alles, einschließlich seiner Kleidung, und behielt nur einen Gegenstand, sein Schwert: “Ehre und Schwert setzen keinen Einsatz.” Daher ist die Fechterskulptur sein ideales Selbstporträt.

Was es nicht alles in der unvernünftigen Jugend gibt. Aber am Ende des 19. Jahrhunderts war es schon keine Zeit mehr, mit einem Schwert durch die Stadt zu gehen.

Fruchtbarkeitsbrunnen

Dekolonisierung und Gesellschaft

Der Brunnen auf dem Arnswalder Platz sprudelt schwach, und der kleine Bärenbrunnen scheint überhaupt inaktiv zu sein. Lederer wird nicht vergessen, aber in einer späten Beurteilung erscheint er als zweifelhaftes Relikt. Sein Schwert und seine anderen Tugenden sind nicht gefragt. Die düstere, strenge Monumentalität und die feierliche Ruhe klingen nicht im Einklang mit den Rhythmen unseres Lebens. Manchmal scheinen sie nicht sehr passende Erinnerungen an eine Ära zu sein, die zu einfachen Formeln des vollendeten Perfektionismus und des Überflusses natürlicher Kräfte neigte. Aber jetzt schwebt Dekolonisierung wieder in der Luft. Alle sprechen über Dekolonisierung und drehen Filme darüber.

Nun, zumindest hat es Lederer vermieden, das Schicksal von Breker und Thorak, den offiziellen nationalsozialistischen Bildhauern, zu teilen, Sängern der “nordischen” Schönheit, deren Kunst jetzt in die Kategorie der Illustrationen zur nationalen Ideologie verbannt ist. Und er hat eine Lehre hinterlassen, die anscheinend nicht veraltet ist.

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