Das langjährige Leiden deportierter Kinder
Millionen Kinder in Westdeutschland besuchten in den 1950er bis 1980er Jahren Heilbäder. Sie sollten sich erholen und zunehmen. Doch für viele wird die „Abschiebung“ zu einer traumatischen Erfahrung, die die Betroffenen ein Leben lang begleiten wird.
Untergewichtige oder gebrechliche Kinder werden in Kurorten betreut. Was wie eine liebevolle Idee klang, wurde für Millionen Kinder in Westdeutschland in den 1950er bis 1980er Jahren Wirklichkeit. Allerdings kommt die überwiegende Mehrheit der Menschen nicht ausgeruht und glücklich aus den Kurorten zurück, sondern fühlt sich unruhig, verängstigt oder sogar krank.
Denn die Schreckensherrschaft in Kinderheimen kommt erst jetzt langsam ans Licht. Anja Röhl sammelt seit Jahren Berichte über diese Therapien von Menschen, die als Kinder schwere körperliche und seelische Misshandlungen erlitten haben. Sie ist selbst ein sogenanntes deportiertes Kind und berichtete von ihren Erlebnissen in den Jahren 2004 und 2009.
Rohr verbrachte Zeit in der Kinderheilanstalt Wyk auf Föhr und in der Kinderheilanstalt Bad Rotenfelde im Teutoburger Wald. Der Haupteindruck, den diese Unterbringung bei ihr hinterließ, war ein überwältigendes Angstgefühl, als sie erlebte, wie Kinder an Betten gefesselt und zum Essen gezwungen wurden. Als Reaktion auf ihre Berichte meldeten sich immer mehr Menschen, die Ähnliches erlebt hatten. Derzeit hat die Website mehr als 10.000 ausgefüllte Fragebögen gesammelt. Der Bundesverband Initiative Kinder senden e.V. wurde im Juni 2023 gegründet.
Sechs Wochen Grausamkeit
„Die meisten Kinder sind zwischen zwei und sechs Jahre alt“, sagte Rohr gegenüber ntv.de. Die Zuteilung an die Familien erfolgt über die Kinderreisemeldestelle beim Jugendamt. Dahinter steht der Anspruch, sich zum Wohle der Kinder an der frischen Luft zu entspannen. Doch die Realität sieht anders aus. „Die Kinder dürfen keine Briefe schreiben, wenn sie überhaupt schreiben können. Ihre Eltern kommen nicht zu Besuch, alles ist verboten.“ Normalerweise bleiben Kinder sechs Wochen, Freizeitausflüge oder Kuraufenthalte für jüngere Kinder verlängern sich jedoch oft auf drei Wochen bis sechs Monate. Vielleicht wäre die Trennung von den Eltern nicht so schlimm, wenn es eine gute pädagogische Interaktion mit den Kindern gäbe. Aber das ist fast nie der Fall. „Die Erziehungsmethoden waren extrem hart. Nicht nur streng, sondern geradezu grausam“, sagte Rohr. Den Kindern wurde das Sprechen verboten, sie wurden zum Schlafen gezwungen, häufig wurden sie körperlich bestraft und während der Mahlzeiten wurden sie wiederholt schikaniert.
Sogar die jüngsten Kinder wurden gedemütigt und gedemütigt. „Kinder wurden in Besenschränke eingesperrt und gezwungen, mit Decken über dem Kopf zu stehen. Der Toilettengang war in den meisten Häusern verboten. Dadurch stieg die Zahl der Kinder, die ins Bett nässten, deutlich an. Dann wurden sie aus dem Bett gezogen.“ „Morgens mussten sie sich nackt ausziehen, von anderen Kindern gehänselt und teilweise sogar geschlagen werden. "
Obwohl die Kindererziehung damals für viele Familien anders war als heute, war das, was in Kinderpflegeheimen geschah, weit von dem entfernt, was die Kinder zu Hause wussten. „Die Einrichtungen zur Abschiebung der Kurden waren sehr abgelegen und erfüllten alle Kriterien einer geschlossenen Einrichtung. Sie folgten in keiner Weise allen Neuerungen von 1968“, berichtet Röhl. Stattdessen herrschten dort wilhelminische Disziplin und schwarze Pädagogik, „motiviert durch die NS-Erziehung unter Mitarbeitern, die entweder ihre Kindheit im gleichen Umfeld erlebt oder eine berufliche Sozialisation erfahren hatten“. Rohr spricht von der „Gefängnismethode“.
Erinnerungen scheinen verschlossen zu sein
Die Investigativjournalistin Lena Gilhaus kommt in ihrem Buch „Kinderdeportation – Eine verdrängte Geschichte“ zu dem Schluss, dass etwa 15 Millionen Menschen abgeschoben wurden. Im Frühjahr 1967 wurden auch ihr Vater und ihre Tante zur Behandlung auf die Insel Sylt geschickt. Geschwister wurden getrennt, Tanten zum Essen gezwungen und Väter von ihren älteren Kindern sexuell missbraucht. Beide erinnern sich auch an die brutale Atmosphäre zu Hause. Gilhouse hat eine Reihe von Fällen zusammengestellt, in denen abgeschobene Kinder über ihre Erfahrungen sprachen. Für viele fühlen sich ihre Erinnerungen an, als wären sie jahrzehntelang „weggesperrt“. Das Gefühl, verlassen und der Gnade anderer ausgeliefert zu sein, war zu stark.
Als sich 2014 die ersten abgeschobenen Kinder zu Wort meldeten, gab es keine Forschung zu diesem Thema. Das hat sich nun geändert, auch dank der Initiative „Send a Child“. Seit 2019 treffen sich Betroffene und Forscher in verschiedenen Kurorten, zuletzt in Bad Salzderfoss, wo 1969 drei Kinder an den Folgen von Misshandlungen bei Kurräumungen starben.
Ein dreijähriges Kind wurde von drei sechsjährigen Jungen zu Tode geprügelt, ein siebenjähriges Kind erstickte an Erbrochenem und ein Mädchen starb. Beamte sagten, die Ursache sei eine Infektion gewesen, aber laut Autopsieergebnissen Außerdem litt er unter akutem Erbrechen in der Lunge. . Gilhouse vermutete sogar, dass 20 Menschen infolge der Räumungen starben. Auch Kinder seien auf Zugfahrten gestorben, sagte Rohr. Unter anderem, weil es zu wenige Betreuer gibt, um zu verhindern, dass Kinder auf dem Weg zur Toilette die Tür verwechseln.
Endlich gehört
Der 69-Jährige beobachtet nun Veränderungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Immer mehr Menschen werden angehört und entdecken, dass ihre Erfahrungen keine Einzelfälle oder Albträume sind. „Die Menschen entdecken ihre Erinnerungen, was eine wirklich tolle Sache ist, denn wir können die Menschen von ihren Gefühlen der Unzulänglichkeit, des Bösen, der Schuld befreien, wie sie ihnen einst als Strafe suggeriert wurden.“ Bisher hat man ihnen noch nie daran geglaubt, nicht einmal dem Therapeut. Angesichts der rund 15 Millionen Betroffenen forderte Röhl mehr historische Forschung.
An den Räumungen beteiligten sich Jugendämter und Ärzte; in den 1960er und 1970er Jahren erwirtschafteten viele Kurorte fast ihr gesamtes Bruttosozialprodukt aus der Behandlung von Kindern, weil es kaum Behandlungsmöglichkeiten für Erwachsene gab. Dennoch thematisiert die lokale Geschichtsschreibung fast nie die Schattenseiten der Vertreibung. Die Betroffenen fordern die Einrichtung einer bundesweiten, öffentlich geförderten Beratungs- und Vernetzungsstelle sowie einer öffentlich geförderten Forschungsstelle und einer Dokumentationsstelle zur öffentlichen Berichterstattung über ihre Erfahrungen. Rohr sagte, die größte Sorge der meisten abgeschobenen Kinder sei die fehlende Entschädigung. „Sie wollen Hilfe bei der Vernetzung, Beratung und Forschung. Sie wollen, dass Kurorte Orte der Erinnerung schaffen und die Gesellschaft aus dem Leid lernen kann.“
Quelle: www.ntv.de