In der Kirche St. Nicolai in Lüneburg ist in diesem Monat eine ganz besondere Ausstellung zu sehen: Die komplette Abschrift des Neuen Testaments auf Faltschriften (Leporellos) und in länglichen selbst gebundenen Büchern. Die Bibel als Kunst ist die Bestimmung von Antje Müller. Die Mathelehrerin und Leiterin einer Grundschule in Bremen hat ein Faible für alte Schriften. In verschiedenen Schriftarten sind die Bibel-Zeilen in Glaskästen und aufgehängt in der Backsteinbasilika bis zum 26. August zu sehen.
Bei einer Fortbildung hat sie vor Jahren erstmals Feuer gefangen, der Schreibprozess fasziniert die 54-Jährige: «Inzwischen könnte ich 30 verschiedene Schriftarten nachmachen, es gibt viele regionale Unterschiede, wie Dialekte in Sprachen.»
2017, zum 500. Reformationsjubiläum, hat Müller für zwei norddeutsche Kirchen jeweils vier Banner mit den Soli der Reformation fertiggestellt. Danach habe sie der Ehrgeiz gepackt. Sie habe in viereinhalb Jahren mit Feder und Tintenfass ihr aufwendiges und kostspieliges Projekt fertiggestellt: die Abschrift des kompletten Neuen Testaments. «Das fließt im Gegensatz zum Kugelschreiber», sagt sie. Eigentlich habe sie jahrelang durchgeschrieben.
Manche Symbole sind mit Blattgold verziert. Im Feierabend und am Wochenende suchte Müller nach passenden Buchkoffern, fand dann historische Handschuhschatullen, für die sie die Bücher anschließend selbst anpasste. Auch die langen weißen Handschuhe sind mit christlichen Sätzen beschrieben.
Die Grundlage für ihre kostspielige Leidenschaft hat ihr Vater gelegt, der zu DDR-Zeiten in Anklam in Mecklenburg-Vorpommern Prediger war. Weil sie nicht Mitglied in der Jugendbewegung FDJ werden wollte, wurden Abitur und Studium nur über Umwege möglich. Nach der Wende studierte Müller in Bremen Physik und Mathematik und bringt ihren Schülern und Schülerinnen inzwischen in Projektwochen in der Schrift- und Druckwerkstatt Kalligraphie bei. «Manche sind dann höchst konzentriert und tauchen ab», berichtet sie.
Ihr nächstes Projekt ist die Abschrift des Alten Testaments: die fünf Bücher Mose werden auf 126 Ziegenpergamente geschrieben, die 150 Psalmen auf selbstgeschöpftes Büttenpapier. Das soll zum Advent 2025 fertiggestellt sein und zum Teil als Lichtinstallation ausgestellt werden. Der Titel der Ausstellung: «Dein Wort ist meines Fußes Leuchte».
Das gesamte Werk soll 2034 abgeschrieben sein, 500 Jahre nach der Übersetzung des Alten Testaments ins Hochdeutsche durch Martin Luther und sein Team. Müllers größter Traum ist eine dauerhafte Ausstellung in einem eigenen Museum, was durch eine Stiftung möglich sein könnte.