Es sind unvorstellbare Szenen: Palästinensische Terroristen dringen nach Israel ein, laufen von Haus zu Haus, erschießen israelische Mütter, Väter, Kinder, alte Menschen und verschleppen mehr als hundert in den Gazastreifen. Verwandte warten auch Tage nach dem entsetzlichen Überfall weiter auf Lebenszeichen ihrer Liebsten.
«Ich weiß nicht, ob meine Tochter irgendwo blutend liegt, ich weiß nicht, ob man sie nach Gaza verschleppt hat, ich weiß nicht, ob sie leidet», sagt Ahuwa Maizel. Das letzte Mal, als sie mit ihrer 22-jährigen Tochter sprach, sei am Samstagmorgen um kurz nach 7.00 Uhr gewesen. Ihre Tochter Adi habe angerufen von einem Musikfestival in der Negev-Wüste und gesagt: «Hier ist ein Massaker, sie richten ein Massaker an, Hunderte Terroristen schießen um sich.» Dann sei die Verbindung abgebrochen. Mittlerweile ist klar, mindestens 260 junge Menschen wurden ermordet. Maizel vermutet, ihre Tochter wurde gewaltsam nach Gaza gebracht.
Hamas strebt Gefangenaustausch an
Der stellvertretende Hamas-Chef Saleh al-Arouri deutete die Absicht der Hamas an, die Geiseln für Verhandlungen nutzen zu wollen. Palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen würden «kurz vor der Freilassung» stehen, behauptete er in dem Zusammenhang. Aktuell sind rund 4500 Palästinenser laut der Menschenrechtsorganisation Betselem in israelischen Gefängnissen, darunter 183 aus dem Gazastreifen. Medienberichten zufolge sollen im Hintergrund bereits Verhandlungen laufen. Israel bestätigte dies nicht.
2011 hatte Israel sich zuletzt mit der Hamas auf einen Gefangentausch eingelassen. Im Gegenzug für die Freilassung eines verschleppten israelischer Soldaten wurden mehr als 1000 palästinensische Gefangene freigelassen. Ebenfalls frei kam bei dem Austausch der heutige Hamas-Chef im Gazastreifen, Ismail Hanija. Neben Ägypten war an den Verhandlungen auch Deutschland beteiligt. Bemühungen um einen weiteren Deal mit der Hamas waren bisher vergeblich gewesen.
Experte: Zu früh, um über Befreiung zu sprechen
Die Aussicht auf einen möglichen Gefangenenaustausch sei einer der Hauptgründe für die Art des Angriffs der Hamas gewesen, vermutet Jochanan Zoref vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien. Die Ankündigung, dass alle Häftlinge befreit werden sollen, hält er für «arrogantes Denken», aber nicht ausgeschlossen. Ein weiteres mögliches Szenario wäre auch ein militärisches Vorgehen etwa mit einer Bodenoffensive oder internationaler Druck auf die Hamas, sagt er. Israel stehe jedoch so oder so vor einer noch nie da gewesenen Herausforderung.
Prognosen abzugeben, sei noch zu früh, sagt Zoref. An erster Stelle stehe jetzt für das Militär, die Situation an der Grenze in den Griff zu bekommen, dann könne über das weitere Vorgehen gesprochen werden. «Es gibt immer noch Kämpfe zwischen dem Militär und Hamas-Kämpfern auf israelischem Gebiet», sagt Zoref.
Netanjaus Regierung unter Druck
Die Regierung stehe jedoch extrem unter Druck, eine baldige Entscheidung bekannt zu geben. «Für die israelische Bevölkerung ist es enorm wichtig, dass die Geiseln sicher zurückgebracht werden.» Aktuell herrsche in der Bevölkerung große Wut auf die Regierung. Dies wisse auch Regierungschef Benjamin Netanjahu. Deshalb liefen im Hintergrund auch Gespräche über ein Notstandsregierung mit der Opposition. «Netanjahu braucht eine breitaufgestellte Koalition, um solche Entscheidung treffen zu können». Netanjahu und die Oppositionsführer Jair Lapid und Benny Gantz hatten zuletzt Bereitschaft signalisiert. Eine Einigung steht weiter aus.
Generell sei es in Israel seit 2011 nicht mehr so einfach, Gefangene zu tauschen, sagt Zoref. Nach der Freilassung des Soldaten gab es viel Kritik aus dem rechten Lager, dass 1000 Häftlinge für einen Israeli freigelassen wurden. Jahre später sei eine politische Entscheidung gefallen, dass solche Vereinbarungen nur noch mit einer großen Mehrheit im Parlament getroffen werden sollen. «Das kann natürlich ignoriert werden, aber das wird auch in die Bemühungen Netanjahus mit hineinspielen, mit der Opposition zusammenzugehen.»
Aktuell führt Netanjahu die am weitesten rechtsstehende Regierung in der Geschichte Israels an. Seit Monaten stand sie in der Kritik, Israels Sicherheit für eine geplante, höchst umstrittene Justizreform aufs Spiel zu setzen.
Horror im Gazastreifen
Was die Geiseln vor Ort durchmachen müssen, zeigen verstörende Videos in sozialen Netzwerken. Eine Frau wird etwa mit einem Blutfleck an ihrer Hose zwischen den Beinen gewaltsam in ein Auto gesteckt. Auf einem anderen Video sieht man eine leblose junge Frau auf der Ladefläche eines Autos, wie sie von Hamas-Anhängern bespuckt wird. Israelischen Medien zufolge sollen zahlreiche Frauen vergewaltigt worden sein, bevor sie getötet oder verschleppt wurden. Auf weiteren Aufnahmen ist zu sehen, wie kleine israelische Kinder von Bewohnern des Küstenstreifens auf der Straße schikaniert und vorgeführt werden.
Als Reaktion der Hamas-Angriffe starteten Israel eine großangelegte Offensive mit Luftangriffen auf den Küstenstreifen. Ein Sprecher des bewaffneten Flügels der Hamas behauptete, dass bei den israelischen Luftangriffen vier Geiseln getötet worden sein sollen. Unabhängig zu prüfen war dies nicht. Die Hamas hatte zuvor angekündigt, die Geiseln «über das ganze Gebiet» zu verteilen. Unter dem dicht besiedelten Küstenstreifen verläuft zudem ein weitreichendes Tunnelsystem.
Ahuwa Maizel bleibt nichts, als darauf zu hoffe, dass es ihrer Tochter gut geht, sagt sie. Die Ungewissheit sei nicht auszuhalten, sagte die 54-Jährige unter Tränen und appelliert: «Falls sie jemand gefangen hält, bitte, bitte, bleibt menschlich. Wir haben alle die gleiche DNA, wir sind alles nur Menschen». Unschuldige Menschen dürften nicht zu politischen Zwecken missbraucht werden. «Lasst das keinen neuen Holocaust werden.»