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"Die Würde des Menschen ist unantastbar." Die 19 Grundrechte stehen im Mittelpunkt der Installation...
"Die Würde des Menschen ist unantastbar." Die 19 Grundrechte stehen im Mittelpunkt der Installation "Grundgesetz 49" des israelischen Künstlers Dani Karavan im Jakob-Kaiser-Haus in Berlin.

Wie solide ist der deutsche Rechtsrahmen?

Deutschland begeht den 75. Jahrestag seiner Verfassung, die als Grundgesetz bekannt ist. Es ist eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte. Doch Rechts- und Linksextremisten stellen die Demokratie in Frage wie nie zuvor. Wie widerstandsfähig ist das Grundgesetz?

Hoch aufragende Glaswände stehen in der Nähe des Reichstagsgebäudes. Die meisten Menschen gehen daran vorbei, aber einige bleiben stehen. Sie lesen: "Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Das sind die ersten Sätze, die das Fundament der Bundesrepublik Deutschland bilden. Sie sind in die Glaswände eingraviert - ein Kunstwerk des israelischen Bildhauers Dani Karavan. Am 23. Mai 2024 gibt es das Grundgesetz seit 75 Jahren. Doch wie stark ist die deutsche Verfassung in diesen turbulenten Zeiten, wenn Populisten auf beiden Seiten das Wesen der Demokratie entstellen?

Ein genauerer Blick gilt den ersten 19 Artikeln, die die Grundrechte umreißen: Meinungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Versammlungsfreiheit und vieles mehr. Diese Rechte sind in der Originalfassung von 1949 auf den Glaswänden eingraviert.

Könnten Verfassungsfeinde die Demokratie stürzen?

Verfassungsexperten scheinen besorgt. Maximilian Steinbeis, ein renommierter Rechtsexperte, warnte 2019 in der "Süddeutschen Zeitung" davor, wie schnell ein Populist, sollte er bei einer Bundestagswahl die absolute Mehrheit erlangen, die Verfassung manipulieren könnte, um das Grundgesetz innerhalb einer Legislaturperiode auszuhebeln.

"Es geht nicht darum, dass das System fehlerhaft ist, sondern dass Populisten wie die AfD bereit sind, es systematisch auszunutzen", sagte Emma Bruhn, Mitglied des Thüringen-Projekts, im Interview mit ntv.de. Unter der Leitung von Steinbeis untersucht das Thüringen-Projekt dieses Dilemma am Beispiel Thüringens und analysiert, welche Auswirkungen es hat, wenn autoritäre populistische Parteien an die Macht kommen. "Gegen diese Art von Missbrauch ist auch die sorgfältigste Verfassung nicht gefeit", so Bruhn. Eine Verfassung sei nicht nur eine Sammlung von Gesetzestexten, sondern erfordere freiwillige Anpassung und Initiative.

Auch Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts von 2010 bis 2020, warnte im "Tagesspiegel" vor den Plänen der AfD. Voßkuhle sieht darin eine Gefahr, denn die Partei strebe "einen grundlegenden Systemwechsel an."

Bundesverfassungsgericht: Ist es unser Retter oder ein schwaches Glied?

Könnte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe der letzte Retter oder eine Schwachstelle im System sein? Seit 1951 ist dieses Gericht die erste Instanz, die das Grundgesetz schützt. Wenn Bürgerinnen und Bürger oder staatliche Organe ihre Grundrechte verletzt sehen, wenden sie sich an das Karlsruher Gericht und suchen Schutz. Das Bundesverfassungsgericht verteidigt das Grundgesetz. Doch was schützt das Bundesverfassungsgericht?

Steinbeis prophezeite schon für 2019, dass das Verfassungsgericht die verwundbarste Stelle des demokratischen Deutschlands sein könnte. Sollte die AfD ein Drittel der Bundestagsabgeordneten stellen, könnte sie die Auswahl der Richter in Karlsruhe beeinflussen und dafür sorgen, dass jede Ernennung ihren Zielen entspricht.

"Polen ist ein Beispiel dafür, wie ein Verfassungsgericht mit ein paar Änderungen der Verfahrensregeln von der Regierung beeinflusst werden kann", sagt Michael Elchberger, ehemaliger Richter im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts. "Aber nur ein unabhängiges und funktionierendes Gericht kann robuste Schutzmechanismen garantieren."

Ähnliche Versuche hat es auch in Ungarn, der Türkei und Israel gegeben. In Israel gingen Hunderttausende auf die Straße, um gegen eine Justizreform zu protestieren, ähnlich wie Rechtswissenschaftler monatelang die Öffentlichkeit über die Bedeutung des Justizwesens aufgeklärt hatten. Bruhn und ihr Team wollen in Deutschland ein ähnliches Bewusstsein schaffen.

Stärkung des Bundesverfassungsgerichts

Die Regierungskoalition plant, das Bundesverfassungsgericht zu stärken: Neue Regeln sollen es vor Einmischung von außen schützen. Derzeit regeln einfache Gesetze die Belange des Gerichts. Eine Änderung kann mit einfacher Mehrheit beschlossen werden, was das Gericht anfällig für Druck macht. Die Verankerung dieser Regeln im Grundgesetz würde jedoch die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln des Bundestags und des Bundesrats erfordern, was dem Rechtsstaat mehr Selbstschutz gewähren würde.

"Während einfache Gesetze mit einfacher Mehrheit geändert werden können, wäre für eine Änderung des Grundgesetzes die Zustimmung von zwei Dritteln des Bundestages und des Bundesrates erforderlich", erklärte Voßkuhle zu den Änderungen.

Das Grundgesetz ist ein Beleg dafür, dass die deutsche Verfassung trotz der Angriffe von Rechts- und Linksextremisten Bestand hat. Der Schutz unserer Verfassung und ihrer Hüter ist entscheidend für den Erhalt der deutschen Demokratie. Die Aufnahme neuer Regelungen ist ein Weg, dies zu erreichen.

Im deutschen Grundgesetz sind zwei Abschnitte nicht veränderbar: Artikel 1 und Artikel 20. Artikel 1 schützt die Menschenwürde, während Artikel 20 festlegt, dass Deutschland eine föderale Republik, ein Sozialstaat und ein Rechtsstaat ist. Demnach sollen Recht und Gerechtigkeit alle staatlichen Institutionen des Landes leiten und sicherstellen, dass Willkür abgeschafft wird.

Für eine Änderung des Grundgesetzes ist die Unterstützung der beiden Fraktionen "Ampel" und "Union" erforderlich. Hinter den Kulissen diskutieren diese Fraktionen darüber, ob das Bundesverfassungsgericht in der Verfassung verankert werden soll.

Im Laufe der Jahre wurde das Grundgesetz nur selten, aber immer wieder geändert. In einem Zeitraum von 75 Jahren hat der Gesetzgeber 67 Änderungen vorgenommen. Mitte der 1950er Jahre kam es zur Wiederbewaffnung, und 1968 wurden Notstandsgesetze eingeführt. In Artikel 20 Absatz 4 heißt es jetzt: "Jeder Deutsche hat das Recht, jedem Versuch, diese Ordnung zu beseitigen, Widerstand zu leisten, wenn keine andere Möglichkeit zur Verfügung steht." Das Recht auf Asyl wurde 1992 eingeschränkt.

Eine komplexe verfassungsrechtliche Frage tauchte 1990 auf: Wie sollten sich die Bundesrepublik und die DDR zusammenschließen? Im Nachhinein sprechen wir von der Wiedervereinigung, aber eigentlich ging es um den Beitritt der DDR zum föderalen Geltungsbereich des Grundgesetzes. Die Schöpfer des Grundgesetzes hatten dies ursprünglich für das Saarland vorgesehen, das seit 1957 zur Bundesrepublik gehörte. Gleichwohl wollten sie den Deutschen die Befugnis einräumen, für diese Situation eine neue Verfassung zu schaffen. Doch dazu kam es nicht, und das Grundgesetz hat Bestand.

Der Historiker Feldkamp teilt mit, dass das Grundgesetz von 1949 nicht mehr dasselbe ist. Obwohl das Grundgesetz die Rechtsstaatlichkeit fördert, ist es eine dynamische und sich entwickelnde Verfassung. "Das Grundgesetz von heute ist nicht das Grundgesetz von 1949", stellt er fest. Es schreibt die Rechtsstaatlichkeit vor, aber es ist dem Wandel der Gesellschaft unterworfen.

Der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz 1948 entworfen hat, wollte die Mängel der Weimarer Verfassung beheben, die den Nationalsozialisten die legale Machtübernahme und die Zerstörung der Demokratie ermöglichten. "Hitler kam durch Gesetze, genauer gesagt durch Notverordnungen, an die Macht", sagt Feldkamp zu ntv.de. Um eine Wiederholung dieser Ereignisse zu verhindern, wollte der Parlamentarische Rat die Gewaltenteilung deutlicher herausarbeiten und die legale Beseitigung der Demokratie nicht zulassen. Diese neue Republik soll nicht wie ihre Vorgängerin scheitern.

Nach achtmonatigen Beratungen verabschiedete der Parlamentarische Rat im Mai 1949 in Bonn das Grundgesetz. Der Name war zuvor suggestiv gewählt worden, um den vorläufigen Charakter des Grundgesetzes bis zur Wiedervereinigung zu vermitteln. Vom 23. bis 24. Mai 1949 trat das Gesetz in Kraft und markierte die Gründung der Bundesrepublik Deutschland als freier, demokratischer und sozialer Rechtsstaat.

Dennoch haben politische Extremisten und verfassungsfeindliche Parteien immer wieder den Einzug in den Bundestag geschafft. Die Sozialistische Reichspartei (SRP) diente nach ihrem Einzug 1949 als Drehscheibe der Nationalsozialisten und wurde 1952 als erste Partei durch das Bundesverfassungsgericht verboten. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) wurde 1956 geächtet. Sie war die letzte verbotene Partei, die im Bundestag vertreten war.

Außerdem zog 1990 die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) in den Bundestag ein, mit dem Ziel, das bestehende politische System zu demontieren. Der Historiker Feldkamp fügt hinzu: "Die Linkspartei bewegt sich heute in der demokratischen Politik. Wir haben diese Parteien immer genommen und destruktive Politik ausgegrenzt. Ich vertraue auf unsere demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen."

Um das Grundgesetz zu stärken, fordert Emma Bruhn vom Thüringen-Projekt: "Wir müssen dafür sorgen, dass es von möglichst vielen Menschen anerkannt wird: Wir brauchen dieses Grundgesetz und wir sind bereit, dafür zu protestieren. Das Grundgesetz verteidigt sich nicht von selbst, Politik und Gesellschaft müssen sich aktiv für den Erhalt einsetzen." Paragraphen reichen nicht aus, aktives Bemühen ist notwendig.

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Quelle: www.ntv.de

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