Der 1979 von Ostdeutschland in den Westen übersiedelte deutsch-deutsche Lyriker und Schriftsteller Günter Kunert (1929-2019) hat für sich eine eigene innerdeutsche Trennlinie gesehen. «Die eigentliche Grenze zwischen den Deutschen (…) verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern eindeutig zwischen Nord und Süd», schrieb Kunert in dem nun erstmals veröffentlichten Text «Zivilcourage. Drei autobiographische Berichte», der in der jüngsten Ausgabe der Literaturzeitschrift «Sinn und Form» zu finden ist.
Der Berliner Kunert war mit seiner Frau Marianne von Berlin nach Kaisborstel bei Itzehoe in Schleswig-Holstein gegangen. «Die Norddeutschen, ob hier oder da, sind doch so gut wie identisch, ruhige Leute mit einem trockenen Humor, freundlich distanziert und trotzdem weniger verschlossen und in sich gekehrt, wie andere deutsche Stämme es von ihnen behaupten», notierte er dazu.
Das Votum für den Norden sei eher instinktiv gewesen. «Unbewusst scheuten wir wohl vor einer ungewohnten Landschaft zurück, vor einem ungewohnten Menschenschlag», wie er aus Sicht Kunerts südlich der Mainlinie zu finden ist.
«Ein Schriftsteller wechselt seinen Wohnsitz: Er zieht von einem Deutschland ins andere. Das sagt sich leicht hin und ist doch schwer getan: in jeder Hinsicht.» Der Platzwechsel sei «Schlusspunkt eines langen Entwicklungsganges» gewesen.
Kunert, der sich in seinen Texten häufig mit deutsch-deutschen Themen befasste, war in den ersten Jahren der DDR künstlerisch zunächst im sozialistischen Realismus zu verorten. Mit den Jahren vergrößerte sich sein Abstand zum System. 1976 gehörte er zu den ersten Unterzeichnern einer Petition gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Im Jahr darauf wurde ihm die Parteimitgliedschaft entzogen. 1979 konnte er mit einem Visum die DDR verlassen.
Der Nachlass des Schriftstellers, aus dem der nun veröffentlichte Text stammt, wird vom Literaturwissenschaftler Wolfram Benda betreut. In «Sinn und Form» ist Kunert seit 1950 als Autor zu finden.