Google und Harvard enthüllen die bisher umfassendste Gehirnkartierung
Ein Kubikmillimeter Gewebe war zwar klein, aber es enthielt 57.000 Zellen, 230 Millimeter Blutgefäße und 150 Millionen Synapsen.
"Wir begannen, es zu sezieren und genau zu untersuchen, und es war wirklich wunderschön", erzählte der Forscher. "Doch als wir die Daten zusammentrugen, wurde mir klar, dass wir viel mehr Informationen hatten, als wir verarbeiten konnten."
Letztendlich sammelten Lichtman und seine Kollegen 1.400 Terabyte an Daten aus der Probe, was mehr als einer Milliarde Bücher entspricht. Nach einem Jahrzehnt enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern von Google entstand aus diesen Daten die präziseste Karte des Gehirns einer menschlichen Gewebeprobe, die je erstellt wurde.
300 Millionen Bilder
Die Herkunft des Gehirngewebes geht auf einen Patienten mit schwerer Epilepsie zurück. Nach den üblichen Verfahren wird ein kleiner Teil des Gehirns entfernt, um die Anfälle zu beenden und die Untersuchung zu ermöglichen. "Es war anonymisiert, so dass ich außer dem Alter und Geschlecht des Patienten kaum etwas über ihn wusste", so Lichtman.
Um die Probe zu analysieren, schnitten Lichtman und sein Team sie mit einem diamantbestückten Messer in dünne Abschnitte. Die Schnitte wurden dann in einem zähen Harz konserviert und zur weiteren Untersuchung in ein Mikroskop geladen. "Sie sind etwa 30 Nanometer dick, also etwa ein Tausendstel so breit wie ein einzelnes menschliches Haar, und fast unsichtbar, es sei denn, man färbt sie mit Metallfarbstoffen ein, um sie richtig abzubilden", fügt er hinzu.
Das Team erstellte mehrere Tausend Gewebeschnitte, die mit einem speziell entwickelten Klebeband eilig gesammelt wurden, so dass eine Art Filmstreifen entstand. "Wenn man jeden dieser Abschnitte fotografiert und sie richtig stapelt, erhält man ein 3D-Stück des Gehirns auf mikroskopischer Ebene".
Als sich die Bilder ansammelten, stießen die Forscher auf das Problem der Handhabung der riesigen Datenmengen.
Lichtman wusste von Googles Projekt zur Kartierung des Gehirns einer Fruchtfliege, das 2019 veröffentlicht wurde, und dass der Tech-Gigant über die nötige Ausrüstung und Expertise verfügt. Er wandte sich an Viren Jain, einen leitenden Forscher bei Google, der an dem Projekt beteiligt war.
Jain betonte die enormen Ausmaße des Projekts: "Der Datensatz bestand aus 300 Millionen Einzelbildern", sagte er. "Der Grund für diese enorme Menge ist, dass die Bilder mit der höchstmöglichen Auflösung aufgenommen wurden, und zwar auf Ebene der einzelnen Synapsen. In diesem Gewebe gab es 150 Millionen Synapsen".
Um den Bildern einen Sinn zu geben, verwendeten die Google-Wissenschaftler eine KI-basierte Verarbeitung und Analyse und kategorisierten das Vorhandensein verschiedener Zelltypen und ihrer Verbindungen. Das Ergebnis war eine interaktive 3D-Darstellung des Gehirngewebes und der umfassendste Datensatz menschlicher Gehirnstrukturen in dieser Auflösung.
Entdeckungen im Gehirn
Die Zusammenarbeit des Teams führte zu detaillierten Bildern mit leuchtenden Farben, die die biologischen Komponenten besser erkennen lassen, ohne dass künstlerische Freiheiten oder Verschönerungen hinzugefügt wurden.
"Die Farben sind zufällig", stellte Jain klar. "Darüber hinaus ist keine Kreativität im Spiel. Der Punkt ist, dass es sich hier um echte Neuronen und Drähte in diesem Gehirn handelt, und wir wollen sie nur auf eine für Biologen zugängliche und bequeme Art und Weise darstellen."
Der Datensatz enthielt auch einige verblüffende Erkenntnisse. So sind Synapsen normalerweise durch eine einzige Verbindung miteinander verbunden, aber Neuronenpaare wiesen stattdessen über 50 Verbindungen auf. "Das ist so, als ob zwei Häuser in einem Häuserblock über 50 separate Telefonleitungen miteinander verbunden wären", überlegt Jain. "Was ist der Grund dafür? Warum sind sie so stark miteinander verbunden? Das haben wir noch nicht herausgefunden, aber wir müssen diesem Phänomen auf den Grund gehen."
Die Erhöhung der Detailgenauigkeit des Gehirns könnte laut Lichtman zum Verständnis von ungelösten medizinischen Problemen beitragen.
"Was bedeutet es, unser Gehirn zu verstehen? Wir können es höchstens beschreiben und hoffen, dass die Beschreibungen zu Erkenntnissen führen, zum Beispiel über die Unterschiede zwischen typischen Gehirnen und solchen, die von psychiatrischen Erkrankungen bei Erwachsenen oder Entwicklungsstörungen wie Autismus betroffen sind", sagte er. "Letztendlich werden wir dadurch Einblicke in die Geheimnisse dieser Krankheiten erhalten."
Der Umfang des Datensatzes lässt vermuten, dass es bei weiterer Erforschung noch weitere sensationelle Details zu entdecken gibt: "Deshalb stellen wir ihn online zur Verfügung. Die Menschen können ihn erforschen und verborgene Schätze aufdecken", fügte Lichtman hinzu.
In Zukunft möchte das Projektteam eine allumfassende Karte des Gehirns einer Maus erstellen, wofür eine 500- bis 1.000-fache Vergrößerung der bereits beeindruckenden menschlichen Gehirnprobe erforderlich wäre.
Lichtman erklärte, dass die Kartierung eines kompletten Säugetiergehirns ein Exabyte an Daten erfordern würde, was eintausend Petabytes entspricht. Dies ist ein bedeutender Meilenstein für die Neurowissenschaften, denn damit könnten zahlreiche Fragen beantwortet und neue Probleme aufgedeckt werden. Die Kartierung eines menschlichen Gehirns wäre jedoch eine noch größere Herausforderung, da sie 1 Zettabyte an Daten erfordern würde - das ist 1.000 Mal größer als ein Säugetiergehirn. Laut Cisco entsprach diese Datenmenge im Jahr 2016 dem gesamten Internetverkehr des Jahres. Gegenwärtig wäre es schwierig, diese Datenmenge zu speichern, geschweige denn ein unberührtes, gut erhaltenes menschliches Gehirn aus ethischen Gründen zu erhalten.
Forscher auf diesem Gebiet äußerten sich auf Anfrage von CNN begeistert über die Studie. Michael Bienkowski, Assistenzprofessor für Physiologie und Neurowissenschaften an der Keck School of Medicine der University of Southern California, sagte: "Diese Studie ist wunderbar, und man kann so viel aus solchen Daten lernen." Vieles von dem, was Wissenschaftler über das menschliche Gehirn zu wissen glauben, basiere auf Tierversuchen, aber Studien wie diese helfen uns zu verstehen, was uns einzigartig macht. "Die Visualisierung von Neuronen und anderen Gehirnzellen ist aufgrund ihrer Dichte und Komplexität eine Herausforderung. Der aktuelle Datensatz erfasst nicht alle Verbindungen, aber es ist wirklich erstaunlich, die verschiedenen Zelltypen und ihre Interaktionen zu sehen."
Andreas Tolias, Professor für Augenheilkunde an der Stanford University in Kalifornien, bezeichnete die Studie als eine "bemerkenswerte technische Leistung", die die Struktur der menschlichen Hirnrinde in hoher Auflösung rekonstruiert. Tolias war fasziniert von der Entdeckung seltener Axone, die in der Lage sind, bis zu 50 Synapsen zu bilden, und fragte sich, welche Rolle sie bei der Berechnung spielen.
Der Neurowissenschaftler Olaf Sporns von der Indiana University wies darauf hin, dass jedes menschliche Gehirn ein riesiges Netzwerk aus Milliarden von Nervenzellen ist, die es ihnen ermöglichen, in bestimmten Mustern zu kommunizieren. Die Kartierung dieses Netzwerks, das als menschliches Konnektom bekannt ist, ist entscheidend für das Verständnis der Funktionsweise des Gehirns. Er betonte, dass die Studie den Weg für künftige Forschungen ebnet und neue Wege der Erforschung und Entdeckung eröffnet.
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Quelle: edition.cnn.com