Zum dritten Mal lud die Landesgruppe Bayern der LmDR russlanddeutsche Autoren, Kulturschaffende- und Kulturvermittler der landsmannschaftlichen Gliederungen zur Fachtagung „Feder – Kuli – Tastatur“ für schreibende Kreative ein, die vom 23. bis 25. Juni 2017 in Nürnberg stattfand. 

Das Projekt wurde aus Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration gefördert. 

Zur Eröffnung am 23. Juni berichtete der Bundesvorsitzende der LmDR, Waldemar Eisenbraun, über die Situation des Verbandes und der Deutschen aus Russland in der Bundesrepublik. Am nächsten Tag begrüßte der Vorsitzende der Landesgruppe Bayern, Ewald Oster, die Teilnehmer und brachte sich in die Diskussionen ein. Auch die Mitglieder des Landesvorstandes, Albina Baumann, Valentina Wudtke und Nelli Geger (Vorsitzende der Jugend-LmDR Bayern), beteiligten sich an der Arbeit des Seminars. Die Moderation lag traditionell in den Händen von Waldemar Weber (Schriftteller und Verleger aus Augsburg) und Maria Schefner (Autorin und Projektleiterin aus München). 

Die Rückkehr der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion in die Heimat ihrer Vorfahren bedeutet nicht nur neue Erkenntnisse bezüglich der eigenen Geschichte, sondern vor allem auch neue Integrationserfahrungen. Die literarische Verarbeitung der Geschichte und Gegenwart der Russlanddeutschen steht noch weitgehend an. Und so war die Fachtagungsreihe von Anfang an mit dem Ziel konzipiert, frühere und gegenwärtige Erfahrungen in themenbezogenen Vorträgen und Diskussionen zu reflektieren, neue Möglichkeiten aufzuzeigen und neue Impulse zu geben. 

Mit der Slawistin (Universität Kiel) und Kennerin der russlanddeutschen Literatur, Prof. Dr. Annelore Engel-Braunschmidt (Hamburg), hatten die Organisatoren eine prominente Literaturwissenschaftlern als Referentin mit an Bord. Sie ist Autorin bzw. Mitautorin mehrerer Publikationen zur russlanddeutschen Literatur in der Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit. Außerdem verfasste sie zahlreiche Abhandlungen zu Aspekten der russlanddeutschen Literatur in Fachzeitschriften sowie aufschlussreiche Vorworte zu Anthologien und Sammelbänden russlanddeutscher Autoren. 

„Dass Russlanddeutsche unter uns leben, ist bekannt, dass sie eine russlanddeutsche Literatur pflgen, ist es nicht. Von den etwa hundert russlanddeutschen Autoren, die von 1956 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion geschrieben und publiziert haben, wissen möglicherweise die Nachkommen der Russlanddeutschen selber nichts. Warum interessiert sich keiner? Weil die Aussiedler außer ihrem persönlichen Schicksal nichts zu erzählen hatten und haben? Zentralasien – hier kommt die Erwartungshaltung des Westens, kommen die Klischees ins Spiel – ist das nicht die Seidenstraße? Und Sibirien – der Traum von der Transsib? Sie aber kamen aus Gegenden, in die kein Tourist je reisen würde, die ‚exotisch’ höchstens in uneigentlicher Rede sind. So befinden sich auch ihre Leidensorte geografich und daher auch mental weit weg.“ Damit sprach Engel-Braunschmidt gleich mehrere Problematiken der Literaturentwicklung an. 

Trotz einiger Bemühungen ist die Literatur der russlanddeutschen Autoren, die sich vorwiegend mit der Vergangenheit der Volksgruppe beschäftigt, dem bundesdeutschen Leser nach wie vor weitgehend unbekannt – auch wenn es einige wenige Ausnahmen gibt. Bis heute sieht es nahezu so aus wie in den 1970er Jahren, als der bundesdeutsche Literaturwissenschaftler Dr. Alexander Ritter den Sammelband „Nachrichten aus Kasachstan. Deutsche Dichtung in der Sowjetunion“ herausbrachte und einräumte: „…die deutschsprachige Literatur in der Sowjetunion gibt es weiterhin, auch nach den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges.“ Aber: „Die Literatur der deutsch sprechenden Minderheit in der Sowjetunion ist bei uns weitgehend unbekannt.“

Literatur aus Osteuropa habe es „generell schwer, über die Landesgrenzen hinaus Anerkennung zu finden, trotz exzellenter Übersetzungen“. Auf dem deutschen Büchermarkt stünden Länder wie USA und Kanada, Skandinavien, Großbritannien und Irland ganz vorne. Ein paar andere europäische Länder folgten mit Abstand, aus Osteuropa sei nichts dabei, so Engel-Braunschmidt. 

Auch in der Literaturwissenschaft werde dem „Nischenthema“ russlanddeutsche Literatur nach mehreren Aktivitäten in den 1990er Jahren, auf dem Höhepunkt der Zuwanderung der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion, in den 2000er Jahren kaum Beachtung geschenkt. Zu erklären sei dies dadurch, dass „diese eng an eine bestimmte Gesellschaftsgruppe gebunden ist und über diese hinaus kaum rezipiert wird“. 

Mit Blick auf die Bemühungen mancher russlanddeutscher Autoren in den 1990er Jahre und später betonte die Referentin: „Was es für russlanddeutsche Autoren bedeutete, als ethnische Minderheit aus ihrem mehr oder weniger geschlossenen Kreis herauszutreten und sich im Kontext einer deutschen Literatur wieder zu finden, die auf eine lange sprachliche und literarische Erfahrung zurückgreifen kann, können wir kaum nachvollziehen.“ Denn: Die russlanddeutsche Literatur sei „eine junge Literatur, die von außen keine Einflüsse aufnahm, das auch nicht wollte, und über eine Literatursprache nur rudimentär verfügte. Entwickelt hat sie sich in der Wolgadeutschen Republik, aber um die proletarische Literatur jener Zeit, die zwar propagandistisch-klassenkämpferisch und atheistisch war, jedoch sprachlich kraftvoll, haben die Späteren einen Bogen gemacht. In den 1970er und 1980er Jahren hat sie, soweit ihr das möglich war, noch einmal zugelegt. Da galt ihr Hauptanliegen dem Existenzbeweis und der Wiedergewinnung der Sprache“, so Engel-Braunschmidt.

Als verbindendes und identitätsstiften des Ereignis der Russlanddeutschen und „Gesamtmetapher russlanddeutscher Befindlichkeit“ beherrsche der 28. August 1941 alles Denken und Fühlen. Es gelte als „das relevante Thema der russlanddeutschen Literatur, sowohl in den Augen der Produzenten als auch in denen der Rezipienten und Kritiker“.

„Aber würde das Bewusstsein, einer bestimmten Volksgruppe zu entstammen, schwinden, wenn Literaten sich anderen Themen widmeten? Warum wird vor einer ‚Verschmelzung mit der gesamtdeutschen Literatur‘ gewarnt? Warum das Begehren nach literarischem Ausschluss bei ethnischem Einschluss ins Gesamtdeutsche? Welche Verluste befürchten russlanddeutsche Autoren? Sorgt nicht die Geschichtswissenschaft für das Bewahren?“, wandte sich Engel Braunschmidt an die teilnehmenden Autoren als Vertreter der russlanddeutschen Literatur, die anscheinend immer noch nicht weiß, wohin sie gehört. 

Bereits in den 1990er Jahren und später befürwortete der Schriftteller und Literaturkritiker Johann Warkentin (1920−2012) vehement die Assimilierung, weil er sie für einen normalen Prozess für die russlanddeutsche Literatur hielt: „Unsere einzige 

…Glücksverheißung ist, restlos aufzugehen in dem heimatlichen Kulturkreis, aus dem das Schicksal unsere Vorfahren einst weggeführt hatte.“ Jeder andere Weg, etwa „unsere russlanddeutsche Identität und die Besonderheiten unserer Literatur“ fortzuschreiben, würde bedeuten, sie der Ausgrenzung preiszugeben.

Wie lange die Autoren sich mit ihrer Herkunft und ihrer Befindlichkeit in Deutschland beschäftigen möchten, muss ihnen überlassen bleiben. Es gibt eine Reihe sehr guter Kurzgeschichten und Miniaturen …, aber es fehlt an größeren Werken. Hier und da könnte auch ein unverstellter Blick von außen mehr nützen als schaden, etwas Distanz zu sich selbst, etwas Humor“, soweit die Empfehlung von Annelore Engel-Braunschmidt. Grundsätzliche Diskussionen zur aktuellen Lage und Zukunf der russlanddeutschen Literatur fanden bereits im Vorfeld des Seminars statt. Der Schriftteller Wendelin Mangold warf zehn Punkte in die Diskussionsrunde, die eine Vielfalt von Fragen und Bedürfnissen ansprachen. Darunter: 

• Neuherausgabe von Werken bekannter russlanddeutscher Autoren der Vor- und Nachkriegszeit;

• Gründung eines Instituts der russlanddeutschen Literatur;

• digitale Archivierung der Werke und Nachlässe russlanddeutscher Autoren;

• Einrichtung einer Literaturseite in der Verbandszeitung „Volk auf dem Weg“;

• finanzielle Förderung eines jährlichen Almanachs russlanddeutscher Literatur;

• Förderung junger russlanddeutscher Literaturtalente durch Werkstatt, Wettbewerb und Workshop;

• Lesungen russlanddeutscher Autoren;

• Seminare und Tagungen zur russlanddeutscher Literatur.

Im Rahmen des Seminars wurden diese Anregungen lebhaft diskutiert. In puncto Notwendigkeit, Zuständigkeit oder fianzielle Möglichkeiten stießen die Teilnehmer allerdings schnell an ihre Grenzen. Unrealistisch erschien auch die Erwartung, Politiker, Verlage und russlanddeutsche Organisationen in die Pflicht nehmen zu können.

Unmissverständlich hatte der Autor Max Schatz (Nürnberg) bereits im Vorfeld einige Inhalte auf den Punkt gebracht: „Es gibt im Wesentlichen nur diese zwei Wege für eine richtige Autorentätigkeit – Verlage und Wettbewerbe. … Doch ist diese Tätigkeit meines Erachtens eine individuelle, nicht der Allgemeinheit dienende Sache und daher einer zusätzlichen Förderung nicht würdig. Andernfalls sollte man der Gerechtigkeit halber jeden Azubi in einem beliebigen Beruf bei seinen Bemühungen um einen Arbeitsvertrag, auf welche Weise auch immer, fördern.“ 

Die beiden anderen Vorträge im Rahmen des Seminars waren eher praktischer Natur. Carola Jürchott, Autorin, Lektorin und Dipl.-Übersetzerin (Berlin), referierte zum Thema „Der Teufel steckt im Detail. Erfahrungen und Empfehlungen aus der Lektorats- und Korrektoratspraxis“ über den sprachlichen und technischen Feinschleift der deutschen Texte. Seit Jahren lektoriert sie Texte russlanddeutscher Autoren, etwa im Almanach des Literaturkreises der Deutschen aus Russland, in anderen Sammelbänden oder auch Einzelausgaben.

Artur Böpple (Rosenstern), Vorsitzender des Literaturkreises (Herford) referierte zum Thema „Wie biete ich mein Buch-Projekt einem Verlag an? Exposé, Anschreiben, Leseprobe“. Anhand anschaulicher Beispiele machte er deutlich, wie Verlage arbeiten und was ein Autor tun soll, damit sein Manuskript zumindest Interesse weckt. In den Arbeitsgruppen wurde die praktische Umsetzung der neuen Erkenntnisse behandelt. Die Teilnehmer diskutieren mit Waldemar Weber (deutsch schreibende Autoren) und einem Dichter aus Berlin, Alexander Schmidt (russisch schreibende Autoren). An beiden Tagen fanden auch literarische Abende statt, bei denen die Autoren aus ihren Werken lesen konnten. 

Dass sich der russlanddeutsche Büchermarkt in den letzten Jahren doch erweitert hat, bestätigten zahlreiche deutsch- und russischsprachige Publikationen, die auf mehreren Tischen ausgelegt waren. 

Darunter auch Publikationen der beiden russlanddeutschen Verlage, BMV Verlag Robert Burau (Lage) und Waldemar Weber Verlag (Augsburg). An die 80 Publikationen russlanddeutscher Autoren hat Robert Burau seit der Gründung seines Verlags 1997 herausgebracht und dadurch einen gewichtigen Beitrag zur Popularisierung der russlanddeutschen Literatur geleistet. Seit 2000 veröffentlicht Waldemar Weber Werke zur russlanddeutschen und bundesdeutschen Geschichte. Dabei ist seine Hauptmotivation, dem Bedürfnis nach Wissen über die russlanddeutsche Geschichte entgegen zu kommen. In der Auswertung wurde der Landesgruppe Bayern für ihren kulturellen Vorstoß gedankt und der Wunsch geäußert, weiterhin solche Tagungen zu praktizieren. Formen der Literaturvermittlung und ‑popularisierung könnten das Thema des nächsten Seminars sein. „Es gibt sie, die russlanddeutsche Literatur – ich hab sie gesehen, es wird wieder diskutiert“, sagte Annelore Engel-Braunschmidt in der Schlussgesprächsrunde. Allerdings. „Der Kreis, der sich hierzulande für Osteuropa interessiert, ist klein. Ihr müsst selbst den Kreis durchbrechen.“

Nina Paulsen, Nürnberg
Quelle: VOLK AUF DEM WEG Nr. 8−9÷2017
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